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Deutsche Geschichte ist nicht nur, was sich in Deutschland abgespielt hat: David Blackbourn korrigiert alte Mythen

Deutsche Geschichte ist nicht nur, was sich in Deutschland abgespielt hat: David Blackbourn korrigiert alte Mythen
Seit Jahrhunderten sind Deutsche mit der Welt verbunden, als Händler, Siedler und Kolonisatoren: von antikolonialistischen Aktivisten mit Farbe bespritzte Bismarck-Statue in Hamburg-Altona.

Zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung klafft oft eine Lücke. Das gilt nicht nur für individuelle, sondern auch für nationale Biografien. Der in den USA lehrende britische Historiker David Blackbourn arbeitet seit über vierzig Jahren daran, durch den Blick des Fremden «Mythen deutscher Geschichtsschreibung» zu korrigieren, wie der Titel eines seiner Bücher heisst. Auch im neuen Buch «Die Deutschen in der Welt» verspricht er, solche Lücken aufzudecken.

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Mit seinem Projekt einer fünfhundert Jahre umfassenden deutschen Globalgeschichte schreibt Blackbourn gegen ein Verdikt Peter Sloterdijks an, das er als Selbsttäuschung entlarven will. Sloterdijk mahnte einmal, von einer deutschen Universalgeschichte sollten Historiker «höflich schweigen», weil es diese nämlich nicht gebe – im Unterschied zur spanischen, französischen oder britischen Globalgeschichte. Und zwar deshalb, weil es nie ein deutsches Weltreich gegeben habe.

Sloterdijks Appell gilt, wie Blackbourn zeigen will, nur, solange der Blick des Historikers national verengt bleibt. Öffnet er sich dagegen für individuelle Lebensläufe, wird deutlich, dass Deutsche am Projekt der Globalisierung nicht nur beteiligt, sondern massgebend waren. Anhand von Tagebüchern, Reiseberichten, Briefen und anderen persönlichen Quellen zeichnet Blackbourn die Lebenswege deutscher Söldner, Missionare, Kaufleute und Forscher nach, die seit dem 16. Jahrhundert die Welt zu der Welt gemacht haben, die sie heute ist.

«Pfahl im Fleisch der Welt»

Die eigentliche Brisanz seiner Untersuchungen verbirgt Blackbourn in dem Teil seines Buches, der dem 19. und dem 20. Jahrhundert gewidmet ist. Hier greift er unter anderem die These vom deutschen Sonderweg zur Nation auf, die er bereits in den 1980er Jahren im Gegensatz zur Mehrheit der deutschen Historikerzunft für unhaltbar erklärt hatte.

Mit einer «Leitmethode des Vergleichs» will Blackbourn zeigen, dass die Entstehung der deutschen Nation kein Sonder- oder Einzelfall ist. Deutschland sei zwar, hält er fest, eine von oben und militärisch geschaffene Nation. Aber trotzdem sei sie nicht von vornherein dazu prädestiniert gewesen, zum «Pfahl im Fleisch der Welt» zu werden, wie Thomas Mann einmal geschrieben hat. Griechenland, Italien oder Rumänien seien von der Entstehung her einen ähnlichen Weg gegangen, ohne für andere Staaten zur Provokation und Bedrohung zu werden.

Vergleichend nähert sich Blackbourn auch dem Nationalsozialismus an. Hier begibt er sich bewusst auf das Feld des bis heute schwelenden Historikerstreites, in dem sich seit dem Beginn 1986 das Lager der Relationisten und das der Singularisten gegenüberstehen. Während Letztere in kontextualisierenden Erklärungsansätzen die Gefahr einer Relativierung nationalsozialistischer Taten wittern, halten Erstere ein Verstehen des Holocausts ohne vergleichende Einordnung für unmöglich.

Von Windhoek nach Auschwitz?

Das Ergebnis von Blackbourns Annäherung ist die Empfehlung, den nationalsozialistisch regierten deutschen Staat als das anzuerkennen, als was er sich selbst verstand: ein Reich. Das «nationalsozialistische Reich» weise alle wesentlichen Merkmale eines solchen Gebildes auf: Zusammenarbeit mit lokalen Kollaborateuren, Ausbeutung von Ressourcen, rassisches Überlegenheitsgefühl und Anwendung von Gewalt.

Der einzige wesentliche Unterschied zwischen kolonialen Expansionen etwa des britischen und des amerikanischen Imperiums sowie dem nationalsozialistischen Reich besteht für Blackbourn im Ort, an dem sie stattfanden. Unter Verweis auf Hannah Arendt und postkoloniale Denker wie Frantz Fanon oder Aimé Césaire schreibt er, die Nationalsozialisten hätten den Juden und Slawen in Europa nur das angetan, was die europäischen Nationen, einschliesslich des wilhelminischen Kaiserreichs, in den afrikanischen, arabischen, asiatischen und indischen Kolonien seit langem praktiziert hätten.

Die Frage, ob ein direkter Weg von Windhoek nach Auschwitz führe, will Blackbourn nicht einfach bejahen. Er weist allerdings darauf hin, wie stark sich die nationalsozialistischen Phantasien von der Erweiterung des Lebensraums im Repertoire kolonialen Denkens bedienten. Heinrich Himmler bezeichnete die Ostgebiete mehrfach als das «Kalifornien Europas», und der Generalgouverneur des besetzten Polens, Hans Frank, verglich die Slawen mit Indianern und sah im Protektorat «eine Art Tunis».

Rituelle Beschwörungen

Blackbourn hält es sachlich für falsch, die Verbrechen des Nationalsozialismus von den übrigen Verbrechen der Menschheitsgeschichte zu isolieren. Denn diese Trennung dient seiner Ansicht nach genau jenen, die das Unrecht der Nazis zur Bagatellisierung ihrer eigenen kolonialen Untaten nutzen wollen. Exemplarisch zitiert Blackbourn Churchills Satz, der Holocaust sei «das wahrscheinlich grösste und schrecklichste Verbrechen der Weltgeschichte», als «bemerkenswerte Feststellung aus dem Munde eines Politikers, der sich gern als Historiker betrachtete», hier aber offensichtlich als Anwalt des britischen Empire gesprochen habe.

Blackbourn ist sich bewusst, wie viel Zündstoff für geschichtspolitische Debatten in seinem Buch schlummert. Das zeigt sich allein schon daran, dass er seinen Hunderte von Seiten langen Ritt durch die deutsche Weltgeschichte mit einer Erinnerung an eine Warnung von Hans Magnus Enzensberger beschliesst: Den deutschen Geschichtsdebatten wohne stets die Gefahr inne, zu «bloss rituellen Beschwörungen» zu verkommen. Dies, findet Blackbourn, drohe heute universell zu werden.

Blackbourn schleudert kräftige Bannsprüche gegen solche Debatten. Das macht sein Buch zu einer anregenden Lektüre, auch wenn man nicht alle seine Einschätzungen teilt. Lohnend ist sein Buch vor allem wegen der «Kühle und Distanz» des Blicks, den Herfried Münkler ausdrücklich gelobt hat. Dazu kommt Blackbourns Talent, Geschichte nicht nur zu analysieren, sondern vor allem auch zu erzählen, das ihn von den meisten seiner deutsch schreibenden Kollegen unterscheidet.

David Blackbourn: Die Deutschen in der Welt. Siedler, Händler, Philosophen: Eine globale Geschichte vom Mittelalter bis heute. Deutsche Verlags-Anstalt. München 2025, 1008 S., Fr. 58.90.

nzz.ch

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