Zu DDR-Zeiten sollte der Plattenbau die Wohnungsnot lindern. Nun könnte das serielle Bauen noch einmal neu erfunden werden


© Seiichi Furuya / Galerie Thomas Fischer, Berlin
Auch das ist eine Geschichte der untergegangenen DDR: Vor allem die Utopie, die Welt lebenswerter zu machen, hat sie sterben lassen. In den fünfziger Jahren erkannte man im neuen sozialistischen Staat, dass das Wohnen für die Menschen zu den wichtigsten Dingen gehört. Im Sinne einer prosperierenden Zukunft müsse Wohnraum geschaffen werden. Möglichst viel, kostengünstig und modern.
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In der Ära Honecker wollte man drei Millionen neue Wohnungen bauen. Bis zum Jahr 1990 sollte die glorreiche Revolution der Städte abgeschlossen sein. Dass ausgerechnet in diesem Jahr dem ganzen Staat die Luft ausging, ist eine tragikomische Paradoxie. Die DDR ist wirtschaftlich auch deshalb zugrunde gegangen, weil der unmittelbare Lebensraum zu billig zur Verfügung gestellt wurde. Sechzig Prozent der Wohnungen waren im Staatsbesitz und die Mieten auf das Niveau von 1936 eingefroren.
Gerade hat die deutsche Regierung einen «Bau-Turbo» versprochen, um die Wohnungsnot und damit die immer weiter steigenden Mieten in den Griff zu bekommen. Mehr Tempo in der Bürokratie, weniger Regeln bei städtischen Bebauungsplänen, schnelle Fertigstellung neuer Projekte. Mit angeregter Phantasie wird unter Bauherrn und Architekten darüber diskutiert, was alles möglich ist.
Wenn die serielle Fertigung von Wohnraum oberstes Prinzip ist, dann könnte sich ein Schatten der Vergangenheit beinahe in reines Licht auflösen: der Plattenbau. Was einst in Beton gegossener Widerspruch zwischen utopischen Möglichkeiten und sozialer Realität war, könnte einen neuen Boom erleben. Ganz anders. Billig, aber mit neuen Materialien. Die Innovationskräfte haben nicht viel Zeit. Schon 2029 sollen die im Paragrafen 246e des Baugesetzbuches neu festgeschriebenen Regeln auf ihre Nützlichkeit hin evaluiert werden.
Normiertes Leben in der PlatteEs ist auffällig, dass es gleichzeitig eine intensive Beschäftigung mit einem ungeliebten, aber mitunter auch verklärten Erbe gibt. Plötzlich ist das Thema Plattenbau wieder chic. Vor drei Jahren erschien eine brillante zweibändige Monografie über den industriellen Wohnungsbau in der DDR, herausgegeben vom Architekten Philipp Meuser. Im Herbst wird die Ausstellung «Sicht-Beton» in Chemnitz einen Blick auf den Plattenbau werfen. Im Februar 2026 folgt dann Dresden mit der Schau «Platte Ost/West».
© Seiichi Furuya / Galerie Thomas Fischer, Berlin
Schon jetzt ist Potsdam dran, die Stadt der krassesten Gegensätze. Das alte Zentrum hat man mit architektonischer Konditorware vollgestellt, mit Nachbauten barocker Grösse. Rundherum spürt man das alte Geld der schönen Villen und jenes prominent daneben gesetzte Gegenteil, dem sich eine Ausstellung im Haus Das Minsk widmet, einem der Projekte des SAP-Milliardärs Hasso Plattner. «Wohnkomplex. Kunst und Leben im Plattenbau» ist eine ebenso tiefe wie weit ausschweifende Beschäftigung mit einem Ost-Phänomen. Sechzig Künstler befragen in ihren Arbeiten die Realität eines sozialen Wohnbaus, der sich bis in die Physis der Bevölkerung eingeschrieben hat.
«Das, wovon man losgerissen wurde oder sich losreissen wollte, bleibt ein Bauteil dessen, was man ist», zitiert der Ausstellungsmacher Kito Nedo den Soziologen Didier Eribon und sein Buch «Rückkehr nach Reims». Gibt es so etwas wie eine genetische Rückbindung der Bevölkerung an Wohnräume, die normiert und massenhaft verbreitet waren? Sieht man diese klug kuratierte Ausstellung, würde man diese Frage wohl mit Ja beantworten.
Eine Melancholie liegt in den Bildern, Objekten und Installationen. Es gibt eine Suche nach Heimat exakt dort, wo die Herstellung der Heimat nur durch Auflehnung des Individuums gegen die Gegebenheiten möglich war. Vom Süden Sachsens bis hinauf nach Stralsund sind auf davor unbebautem Land Wohnkomplexe entstanden, die man sowjetischen Vorbildern verdankte. Ab 1950 wurden diese Grosssiedlungen für mindestens fünftausend Bewohner und mit kompletter Infrastruktur geschaffen.
© Seiichi Furuya / Galerie Thomas Fischer, Berlin
Berlin-Marzahn, Erfurt-Roter Berg, Potsdam-Stern, Dresden-Gorbitz, Jena-Lobeda oder Halle-Neustadt sind Beispiele für Zukunftsentwürfe einer Ost-Moderne, die vergessen hatte, sich auch um die Selbstentwürfe der Menschen zu kümmern. Modernen Plattenbau gab es zu anderen Bedingungen auch im Westen Deutschlands, aber für die DDR waren die Zahlen dramatisch. Fünfundzwanzig Prozent der Bevölkerung lebten «in Platte». In Rostock waren es sogar siebzig Prozent, wie der Soziologe Steffen Mau in seiner epochalen Studie über das Wohnviertel Lütten Klein schreibt.
Im Plattenbau – den es auch in kleineren Einheiten gab – zu wohnen, hiess: Rückeroberung des Raums, Privatisierung des Politischen, soweit es möglich war. Kindheiten auf genormten sieben Quadratmetern oder ein Erwachsenenleben in Wohnzimmern der ab den sechziger Jahren gebräuchlichen Wohnungsbaureihe P2 waren eine Herausforderung darin, die Würde nicht zu verlieren.
Kitsch und Elend in einemIn diesem modernen Leben gibt es viel häuslichen, fast schon wieder anarchisch wirkenden Kitsch. Die Fotografin Sibylle Bergemann hat bis in die achtziger Jahre Sofaecken der P2 mit der Kamera festgehalten, die den Geist der im Bild nicht zu sehenden Bewohner spiegeln. Im Arbeiter- und Bauernstaat wird von einer üppig gemusterten Bürgerlichkeit geträumt. Die paar Quadratmeter können die raumgreifenden Sitzlandschaften kaum fassen.
Sibylle Bergemann / Ostkreuz / LOOCK, Berlin
Von aussen hat Uwe Pfeifer die Grosssiedlungen immer wieder gemalt. Seine Bilder haben schon im Titel eine subversive Nüchternheit, heissen «Beton und Steine», «Antennendach», «Fussgängertunnel» oder «Wäscheleine im Nebel». Bis in die Tiefe sind die Plattenbauten gestaffelt. Ihr Minimalismus der Form dehnt sich als städtebaulicher Grössenwahn bis zum Horizont aus, als gäbe es dahinter keine Welt. Peter Herrmann lässt in einem Ölgemälde Natur und Kultur fast karikaturhaft aufeinandertreffen. Stilisierte Kühe grasen vor einem ebenso stilisierten Wohnblock und schauen selbstvergessen aus dem Bild.
Was man nicht unterschlagen darf: Rationalisierter Plattenbau war auch Fortschritt und Zukunftshoffnung. Und lange ein Symbol noch nicht enttäuschter Erwartungen. Die aufeinandergestapelten Module mit ihren Heizungen und Nasszellen brachten bisher kaum gekannten Komfort. Innovationen wie die P2-Durchreiche zwischen Wohnzimmer und Küche wurden ebenso euphorisch begrüsst wie die Plattenbauten selbst.
Aus guten Gründen geht die Potsdamer Ausstellung über die historische Schnittstelle der deutschen Wiedervereinigung nicht hinaus. Das Thema Plattenbau hat sich seit den neunziger Jahren auf rasante Art diversifiziert. Vieles wurde abgerissen oder rückgebaut. Je nach Stadt oder Stadtviertel haben sich die Wohnmaschinen zu neuen Ghettos entwickelt oder gelten heute als chic.
Brandenburgisches Landesmuseum für moderne Kunst / © ProLitteris / Foto: Thomas Kläber
Das ehemalige Ostberliner Zentrum, in dem zu DDR-Zeiten ein forcierter Gestaltungwille für repräsentatives Bauen sorgte, ist heute ein ästhetisches Denkmal seiner selbst. Die Plattenbau-gesäumte Karl-Marx-Allee heisst wie ehedem. Manches Fertigteil-Erbe in der Berliner City ist nicht mehr als solches zu erkennen, weil es für den neuen Immobilienmarkt gnadenlos aufgehübscht und oft bunt bemalt wurde.
Wenn es jetzt möglicherweise einen neuen Boom des seriellen Bauens gibt, dann ist der DDR-Plattenbau ein Relikt. Es gab die grauen Jahre in den kohleluftgeschwängerten Landschaften des Ostens, wo das Modell WBS 70 die finale Phase standardisierten Wohnungsbaus einläutete. Die von Erich Honecker propagierte «Klassengesellschaft neuen Typs» war zu ihrer eigenen Drohung geworden. Ohnehin wohnte die politische Kaste der Staatsführung nicht in dem, was die Baukombinate auf billigste Weise produzierten und aufs freie Feld stellten.
Waren die Plattenbauten ein Ort der Entfremdung, oder kam hier mitunter etwas düster Menschliches ganz zu sich? In den Baseballschläger-Jahren der Nachwendezeit tobte sich hier der Mob gewaltsam gegen Schwache aus. Die Täter des rechtsterroristischen Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe, waren Kinder des Plattenbaus. Die Ausstellung in Potsdam erinnert daran.
Der Künstler Markus Draper greift für seine Arbeit «Grauzone» ein anderes historisches Detail auf. Zinkguss-Modelle von Plattenbauten stellen die Fluchtorte jener zehn westdeutschen RAF-Terroristen dar, die in den achtziger Jahren beim östlichen Nachbarn ein Versteck gefunden hatten. Sie wurden im Sommer 1990 unter anderem in Berlin-Marzahn verhaftet. Es war das Ende einer lange gepflegten Kooperation zwischen SED und RAF. Die Anonymität der «Platte» war den Terroristen ein Schutz gewesen, das vollkommene Verschwinden in der Masse. Der Rest der Plattenbau-Bewohner hätte sich für sich selbst wahrscheinlich das genaue Gegenteil gewünscht.
Harald Metzkes / © ProLitteris / Foto: Manuel Weidt
Die Ausstellung «Wohnkomplex. Kunst und Leben im Plattenbau» im Potsdamer Haus Das Minsk ist noch bis 8. Februar zu sehen. Der Katalog kostet 30 Euro.
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