Experte klärt auf: Allein, aber nicht einsam: Was ist der Unterschied?

von Alicia Maurer
2 Min.Einsamkeit ist nicht unbedingt mit Alleinsein verbunden – wir können uns auch inmitten von vielen Menschen einsam fühlen. Doch woran genau liegt das? Der Psychotherapeut Dr. Dietrich Munz erklärt, was genau wir unter den beiden Begriffen verstehen können und weshalb eine Unterscheidung so wichtig ist.
BRIGITTE: Was ist der Unterschied zwischen Einsamkeit und Alleinsein?Dr. Dietrich Munz: Einsamkeit ist ein Zustand, in dem wir uns allein fühlen und den Wunsch nach Kontakt mit (uns vertrauten) Menschen haben – oftmals verbunden mit Schmerz und Trauer. Wir Menschen leben in der Ambivalenz zwischen dem Wunsch nach Nähe und Zuwendung einerseits, und nach Unabhängigkeit und Freiheit andererseits. Je nach Lebenssituation leben wir zeitweise stärker auf der einen oder anderen Seite, also mehr in der Suche nach Nähe, oder der Suche nach Unabhängigkeit. Ist letzteres der Fall, wird Alleinsein ohne das Gefühl von Einsamkeit erlebt.
Und das hält sich immer die Waage?
Hinter Abhängigkeit – der Suche nach Beziehungen – kann das Problem stehen, dass wir Schwierigkeiten haben, unsere Autonomie zu gestalten und zu leben und dann schneller das Gefühl der Einsamkeit aufkommt. Hinter Autonomie – der Suche nach Unabhängigkeit – kann Angst vor Nähe und Abhängigkeit, dem Verlust der eigenen Unabhängigkeit in einer Beziehung stehen.
Wieso wird Alleinsein in unserer Gesellschaft noch immer als etwas Negatives angesehen?
Mein persönlicher Eindruck ist etwas anders. In unserer Gesellschaft, in der Individualität und Eigenständigkeit sehr betont wird, finden jüngere Menschen, die als Single erfolgreich alleine leben oder denen eine Fernbeziehung gelingt, eher Anerkennung. Bei älteren Menschen dagegen sehen wir eher die eigene Angst, im Altern zu vereinsamen und lehnen deren Alleinsein ab, da sie für uns kein Vorbild sind, wie man das Älterwerden zufriedenstellend gestalten kann.
Vielen Menschen fällt es sehr schwer, allein zu sein. Woran liegt das?
Diese Menschen haben meist einen unbewussten Wunsch nach Liebe, Geborgenheit und oft auch Schutz, bei gleichzeitiger Angst vor Verlust der Menschen, die Ihnen diese Zuwendung geben. Ihnen fällt es oft schwer, eigene Interessen und Wünsche unabhängig von Anderen zu verfolgen. Manche Menschen haben auch die Angst, wenn sie eigenen Interessen nachgehen und dabei vorübergehend oder länger auf Distanz gehen, abgelehnt und zurückgewiesen zu werden.
Kann man Alleinsein lernen?
Schon als kleine Kinder lernen wir Alleinsein auszuhalten, zum Beispiel dann, wenn ein Kind ganz mit sich und seinem Spiel beschäftigt ist und dabei nicht gestört wird. Wichtig ist dabei, dass es das Gefühl hat, dass die Bezugspersonen jederzeit erreichbar sind. Man kann Alleinsein ohne das Gefühl von Einsamkeit lernen, indem man sich Dingen zuwendet, die man gerne macht. Dabei sollte das wichtigste Gefühl sein, dass ich das im Moment alleine machen möchte: Nicht, um mir oder anderen etwas zu beweisen, sondern um die Befriedigung zu erreichen, dass es mich erfüllt und mir Zufriedenheit schafft. Wir können versuchen, das bewusst umzusetzen, um dabei die Erfahrung zu machen, dass wir allein sein können.
Welche Vorteile hat das Alleinsein?
Alleinsein gestalten zu können kann ein inneres Gefühl von Unabhängigkeit und Eigenständigkeit bestärken. Das bedeutet nicht, dass dadurch der Wunsch nach Nähe und Geborgenheit aufgegeben wird, sondern letztlich mehr innere Freiheit für und in den Beziehungen oder Freundschaften, die ich habe. Ich gewinne dadurch mehr Sicherheit, im „Notfall“ auch mein Leben ohne diese Beziehung, also im Alleinleben gut hinzukriegen.
Ist es merkwürdig, es zu genießen, öfters alleine etwas zu machen?
Das ist gar nicht merkwürdig, sondern in der oben dargestellten Ambivalenz ist dies die Realisierung des Wunsches, auch zeitweise etwas allein zu machen, selbstständig eigenen Wünschen und Interessen nachgehen zu können. Oft leiden Beziehungen darunter, dass ein oder beide Partner nur schwer in der Lage sind, etwas alleine zu unternehmen. In Beziehungen ist das Vertrauen wichtig, dass dieser Wunsch, etwas alleine, unabhängig vom Gegenüber zu machen und zu genießen, akzeptiert wird und dies die Beziehung nicht (zer)stört, sondern vielleicht sogar bereichert.
Brigitte
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