Gesundes Training vs. Laufsucht: Macht mich Laufen fit oder abhängig?




Außer Atem oder am Ende? Wann aus einem Hobby eine Sucht werden kann
Foto: lzf / Getty ImagesAls Trainerin von vielen unterschiedlichen Menschen, die mit ganz individuellen Zielen, Ansprüchen und Wünschen auf mich zukommen, wandere ich manchmal auf einem schmalen Grat. Was für die Eine ein notwendiger Schubser zur Motivation sein kann, ist für den anderen eventuell ein toxischer Ratschlag.
Aber von vorn: Laufen ist die beste Lösung. Die positiven Auswirkungen von regelmäßigen Dauerläufen auf die Gesundheit sind hinlänglich bekannt. Laufen ist kinderleicht und doch so anstrengend. Aber genau diese Anstrengung macht das Laufen zum effektivsten Ausdauersport, denn kein Wasser trägt den Körper, keine Räder rollen bergab und kein Spielpartner unterstützt oder ergänzt uns.
Beim Laufen sind wir mit uns allein und erbarmungslos Schritt für Schritt mit dem eigenen Körper konfrontiert. Das fordert nicht nur das Herz-Kreislauf-System, sondern auch den Bewegungsapparat mit all seinen Sehnen, Bändern, Knochen, Knorpeln und nicht zuletzt die gesamte Muskulatur. Wer dreimal pro Woche für 30 bis 90 Minuten läuft und dabei auf einen ausgewogenen Mix aus längeren Läufen im Grundlagentempo und kurzen hochintensiven Tempoeinheiten achtet, macht alles richtig. Die volle Punktzahl beim Thema Gesundheitsvorsorge gibt es schließlich, wenn auch noch regelmäßig Krafttraining gemacht und auf eine ausgewogene Ernährung geachtet wird.
Neben all den positiven körperlichen Effekten hält das Laufen auch noch ein paar Auswirkungen auf die seelischen Zustände bereit. Die Ausschüttung verschiedener Hormone sorgt dafür, dass wir uns während, vor allem aber nach dem Laufen besser fühlen als zuvor. Stress wird abgebaut, negative Emotionen treten in den Hintergrund, der Stolz über den absolvierten Lauf kann gerade bei Menschen, die viel gegen depressive Verstimmungen kämpfen, die emotionale Rettung des Tages bedeuten.
Manchmal geht es sogar so weit, dass unser Endocannabinoid-System uns ein regelrechtes „Runner’s High“ beschert. Es sind nämlich nicht die durch das Laufen provozierten Endorphine, die uns in rauschähnliche Zustände versetzen, weil diese Botenstoffe gar nicht die Blut-Hirn-Schranke passieren. Vielmehr sind es die körpereigenen Rezeptoren, die uns Glück und Wohlbefinden beim und nach dem Laufen empfinden lassen.
Dennoch haben selbstverständlich die Glückshormone Endorphin, Dopamin und Serotonin ebenfalls ihren Einfluss auf den Geisteszustand von Läuferinnen und Läufern. Wogegen auch gar nichts einzuwenden wäre, wenn ich eben in meiner zwanzigjährigen Laufbahn als Trainerin nicht auch schon schattige Seiten dieser ansonsten so heils- und glücksbringenden Sportart gesehen hätte.
Was ich konkret damit meine? Vor Schmerzen humpelnde Dauerläufer, vor Ermüdung gebrochene Knochen, Tränen der Enttäuschung statt des Glücks, sozial isolierte Hobbyathleten …
„Ich kann es nicht stoppen“Aus Erfahrung weiß ich, dass das Laufen die Gefahr birgt, süchtig danach zu werden. Das klingt zwar erst mal wie „süchtig nach Obst und Gemüse“, könnte aber zum Problem werden, wenn wir mit unserem Trainingsverhalten unsere Gesundheit gefährden. Weil etwa Knochen brechen, Schmerzen chronisch werden, Nährstoffe nicht rechtzeitig und schon gar nicht ausreichend nachgefüllt werden oder Sportstress gegenüber guter Lauflaune überwiegt. Schauen wir uns doch mal an, an welchen Merkmalen eine Suchtproblematik festgemacht wird:
Merkmal 1: „Ich brauche das“ – starkes Verlangen
Merkmal 2: „Ich kann es nicht stoppen“ – Kontrollverlust
Merkmal 3: „Es geht nicht mehr ohne“ – Abstinenzunfähigkeit
Merkmal 4: „Ich brauche immer mehr“ – Toleranzbildung
Merkmal 5: „Ich bin nicht mehr ich selbst“ – Entzugserscheinungen
Merkmal 6: „Um mich herum wird es einsam“ – Rückzug aus dem Sozialleben
Natürlich sind diese sechs Merkmale auf den Konsum von Substanzen gemünzt. Aber welcher Läufer kennt es nicht? „Wenn ich jetzt nicht eine Runde laufen gehe, dann drehe ich durch.“ „Ich laufe noch schnell, danach geht es mir besser.“ „Ich bin gereizt, weil ich heute noch nicht zum Laufen gekommen bin.“ Klar, ohne Ehrgeiz kein großer Sport und deshalb ist es ja auch eine Gratwanderung. Manchmal lassen uns Laufziele über uns hinauswachsen und wir erreichen sie nur, wenn wir uns kompromisslos an ihnen festbeißen.
Manchmal kommt aber auch der Zeitpunkt, um dieses Wachstum in seiner Notwendigkeit zu hinterfragen. Hier kommt jetzt kein von Psychologen ausgearbeiteter Fragebogen, um festzustellen, ob Sie eine toxische Beziehung zu Ihrem Laufen haben. Mit diesem Text soll nur Achtsamkeit geschaffen werden. Mit ein paar Gedankenspielen sollen begeisterte Läuferinnen und Läufer ihre Beziehung zum Laufen einfach mal für sich hinterfragen.
Die beste Version unseres SelbstWas in der Drogensucht fatale Folgen hat, wird von uns Coaches provoziert: Toleranzbildung! Trainingspläne sind so konzipiert, dass die Athleten immer wieder an den Rand ihrer Komfortzone geführt werden, diese hier und da auch überschreiten, um schließlich ihr System zu verbessern. Niemand schreibt mir: „Ich will so bleiben, wie ich bin.“ Also machen wir Trainer unseren Job. Wir wollen, dass Ihr immer mehr braucht, wollt, könnt. Höher, schneller, weiter. Wer systematisch trainiert, will besser werden und greift damit in bestehende Strukturen ein.
Wer einem Coach schreibt, dass er abnehmen möchte und irgendwann einen Marathon laufen will, dem hilft der Coach mit Plänen beim Abnehmen und begleitet ihn danach beratend bis an die Startlinie und sogar bis ins Ziel seines Marathontraumes. Und schließlich freuen wir uns, dass derjenige oder diejenige nach diesem Prozess nicht mehr er beziehungsweise sie selbst ist.
Wir wollen mit dem Laufen die beste Version unseres Selbst werden und dürfen zu Recht stolz sein, wenn wir das geschafft haben. Manchmal hören wir das Umfeld sagen: „Du bist aber dünn geworden.“ Oder: „Ist das noch gesund mit den ganzen Marathons?“ Dann sollten wir uns zunächst freuen, dass wir noch ein Umfeld haben und nicht aufgrund von zu viel Training und zu wenig Sozialkontakten in die totale Einsamkeit gerannt sind.
Doch anschließend sollten wir hinterfragen, ob die Sorgen unseres Umfelds berechtigt sind oder vielleicht einen kleinen Neidfaktor in sich tragen. Das ist natürlich nicht einfach so zu pauschalisieren mit dem Suchtfaktor beim Laufen. Alle haben ihren individuellen Kopf und ihren eigenen Körper. Aber wenn die mentale Gesundheit von meinem gesunden Körper abhängt, frei nach dem Motto „Mens sana in corpore sano“, dann sollte der Gradmesser immer die körperliche Verfassung sein.
Dazu ein paar Parameter, um sich selbst zu überprüfen:
Wie oft war ich in den vergangenen 365 Tagen krank?
Wie „rund“ ist morgens mein Gang vom Bett zur Toilette?
Wie oft nehme ich (vor dem Laufen) Schmerzmittel?
Hatte ich schon Verletzungen, die durch das Laufen verursacht wurden?
Wenn Sie bei Fragen dieser Art den Kopf schütteln und mit reinem Gewissen behaupten können, dass Sie trotz oder wegen des Laufens in hervorragender gesundheitlicher Verfassung sind, dann empfehle ich noch kurz folgende Überlegungen:
Mache ich immer mehr oder weniger, als im Trainingsplan steht?
Zähle ich meine gelaufenen Wochenkilometer und bin ich erst richtig glücklich, wenn eine bestimmte Zahl erreicht ist?
Kann ich ohne Uhr und Aufzeichnung laufen?
Wie wichtig ist mir das Teilen meines Trainings in den sozialen Medien?
Kann ich nur mit Musik, Podcasts oder in Gesellschaft laufen?
Egal, wie Sie die Fragen für sich beantworten, ich danke Ihnen auf jeden Fall, dass Sie einfach mal darüber nachdenken. So, und jetzt gern weiterlaufen. Mit gesundem Geist und gesundem Körper!
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