Mode: Ein kleines Schwarzes aus München

Das sogenannte Kleine Schwarze ist eine Ikone der Mode und sollte mit angemessenem Ernst betrachtet werden, auch wenn der Name Beiläufigkeit suggeriert. Das Kleid, meistens etwa knielang, schlicht und unbedingt elegant, ist mit berühmten Namen verknüpft. Coco Chanel gilt als seine Erfinderin, Audrey Hepburn trug es zur Zigarettenspitze in „Breakfast at Tiffany’s“, Kate Moss mal mit wippenden Marabufedern, mal zur Lederjacke. Wer diesem Klassiker, seit ungefähr einem Jahrhundert untrügliches Zeichen für Stil und sicheren Geschmack (oder das Fehlen von beidem), etwas Neues hinzufügen will, braucht Selbstbewusstsein. Und das fängt in diesem Fall schon bei der Adresse an: eine Villa am grünen Rand von München, lackierter Zaun, rauschende alte Bäume. Detlev Diehm hat sein Atelier im ersten Stock. Er ist eigentlich Herrenschneider, was aber nur scheinbar ein Widerspruch ist zu „the dress“, wie es oft heißt, dem Kleid schlechthin.
Diehm kommt im tintenblauen Maßanzug und Loafers durch den Garten, oben liegt seine sehr zeitgenössische Version der „petite robe noire“ bereit. Auf Französisch klingt es gleich noch leichtfüßiger, Pariser Modehistoriker schwärmen von dem Kleid gerne als Symbol „ewiger Weiblichkeit“, dem „sublimen Sexappeal“. Seine Neuerfindung aus Obermenzing ist schmucklos, minimalistisch, fast streng und von Audrey Hepburn so weit weg wie ein kühles skandinavisches Sideboard von einem koketten Frisiertisch. Auf den ersten Blick: ein Quadrat aus Strick, feinmaschig, dunkel und etwa so kurz wie ein mittellanger Minirock. Drei schnurgerade Aussparungen für Kopf und Arme, überschnittene Schultern, das war’s. Wie das am Ende aussieht, bestimmt die Laune der jeweiligen Trägerin: Locker übergeworfen oder tailliert, mit Gürtel, lieber pur oder mit dicker Halskette. Von poetischen Attributen wie erhabener Weiblichkeit ist dieses Update ziemlich weit entfernt. Freiheit trifft es besser.

Auf dem Glastisch in Diehms schattigem Anprobezimmer mit tiefen Sesseln und Ölgemälden sieht das Stück Stoff aus wie ein sorglos liegen gelassener Schal. „Es ist das Kleine Schwarze für unsere Zeit, weil es jede Situation mitmacht“, sagt er. Kurzer Knautschtest, tatsächlich bilden sich kaum tiefe Falten. Mit den Eigenschaften von Textilien kennt sich wahrscheinlich kaum jemand so gut aus wie ein ernsthafter Herrenschneider, weil die Formen bei Sakko, Hose und Weste nicht endlos variabel sind. Umso mehr liegt die Kunst in stofflicher Genauigkeit. Welche Leinenmischung für den schmalen Sommeranzug, wie viel Wollanteil verträgt ein Jackett mit weich gerundeten Schultern? So gesehen ist es gar nicht so überraschend, dass jemand wie Diehm auf die Idee kam, sich das Kleine Schwarze vorzunehmen, mit seinen klaren Koordinaten. Mittlere Länge, wenig Dekor, und vor allem: muss passen wie angegossen.
Passen bedeutet heutzutage auch: Ein gutes Kleid muss sich anpassen, möglichst variabel sein. Anlasskleidung mit festen Regeln gibt es fast nicht mehr, wenn man von süddeutschen Maifesten absieht, mit ihrem uniformen Dirndl- und-Janker-Auftrieb. Aber bis auf Royal Weddings verlangt zum Glück kaum eine Feierlichkeit nach disziplinierter Garderobe, weder Taufe noch Vermählung oder Festspielpremiere. Für Diehm konnte sein elegantes Schwarzes deshalb nur ein Allrounder sein. „Mit dem kommen Sie aus dem Freibad und gehen direkt in die Oper“, sagt der 60-Jährige über das Leichtgewicht aus japanischer Mischfaser und ruft die Fotos auf der Website auf. Um die Tag- und Nachttauglichkeit zu demonstrieren, lässt das Model eine nackte Schulter sehen (Liegewiese) oder trägt High Heels und eine Clutch mit Kette (Theaterloge). Die Vorstellung ist nicht sehr realistisch, wahrscheinlich wird kaum jemand in dem rauchschwarzen Dress vom Strandbad ins Theater spazieren. Aber es geht um den Look: Urban, unkompliziert, dabei edel, dafür sorgen das feine Garn und die (so gut wie) nahtlose Silhouette.
Zu den Ursprüngen der „robe noire“ passt die frei fließende Form gut, da Coco Chanel wie gesagt als Pionierin des ikonischen Kleids gilt. Die Theorie ist nicht unumstritten, wie bei jeder genialen Erfindung, jedenfalls befand sich unter ihren leger fallenden Kreationen aus den Zwanzigerjahren auch eine aus dunkelster Seide. Chanel wollte bekanntlich die Frauen vom Korsett erlösen, ohne auf modische Raffinesse zu verzichten, was als Konzept genauso revolutionär war wie die Farbe Schwarz für einen Entwurf, der nichts mit Trauern zu tun hat. Die amerikanische Vogue bezeichnete 1926 die Idee und das Kleid als „zukunftsweisend“, was dann für ziemlich alles galt, was Chanel als Designerin schuf.
Ein stehender Begriff wurde das Kleine Schwarze aber erst von den Fünfzigerjahren an, als es mit Taille, dezentem Schnitt und geschickt gesetzten Lichtpunkten durch Schmuck zum Inbegriff von Klasse wurde. Seit Chanel, Dior und vor allem Hubert de Givenchy („Frühstück bei Tiffany“) gehört das Kleid zum Repertoire aller Couturehäuser. Die Liste berühmter Trägerinnen reicht von Grace Kelly, Marilyn Monroe oder Catherine Deneuve bis zu Prinzessin Diana im schulterfreien „revenge dress“ oder zu Kendall Jenner, die das Wort „klein“ für sich persönlich als mikrokurz interpretiert, was sonst. Und Designer reizt es offenbar nach wie vor, mit dem Grundschema „schlicht und schwarz“ zu spielen. Sarah Burton zeigte im März bei ihrem Debüt für Givenchy transparente Rüschenkleider und einen Ganzkörper-Anzug aus Netzstoff. Den Catsuit würde Audrey Hepburn vielleicht heute tragen in der berühmten Tiffany-Auftaktszene mit Sonnenbrille am frühen Morgen.

Hepburns Anmut, selbst wenn sie ein Croissant aus der Papiertüte schält, hat das Bild vom Kleinen Schwarzen bis heute geprägt, auch wenn ihr Modell bodenlang war. Längst müssen Kleider aber auch pragmatische Fragen beantworten, ob sie sich angenehm tragen zum Beispiel oder Luft an den Körper lassen. Bei Detlev Diehm stand das sogar am Anfang seiner experimentellen Neuinterpretation. Als er ein japanisches Garn entdeckte, bei dem das typische hauchfeine Washi-Papier um einen Faden aus recyceltem Kunststoff gewickelt wird, faszinierten ihn der ausgetüftelte Herstellungsprozess und die kühle Oberfläche des Stoffs. Er ließ ein paar T-Shirts fertigen, zunächst für den eigenen Bedarf, und stellte im Selbstversuch fest: Biennale in Venedig im Hochsommer, brüllende Hitze, „und ich kam kein einziges Mal ins Schwitzen“. Das besondere Gewebe leite Feuchtigkeit nach außen ab, anstatt sie aufzusaugen. Es verträgt außerdem den Schonwaschgang in der Maschine und ist erstaunlich haltbar – was man bei Zellulose überraschend finden mag, zumindest im Westen. In Japan werden solche Garne schon lange geschätzt und verarbeitet. Washi ist leichter und weicher als herkömmliches Papier, es soll auch antibakteriell wirken.

Die Idee, daraus ein schlichtes schwarzes, wärmeregulierendes Kleid zu entwickeln, war das eine. Die Umsetzung dauerte allerdings, weil der Faden zunächst für Strickmaschinen ungeeignet war. Es gab Gespräche, Probeläufe, Besuche in Japan und in China, wo das Münchner Kleid inzwischen an Spezialgeräten produziert wird. Was die Reisen betrifft, sie waren kein Problem für Diehm, der neben seiner Neigung zu Italien, wo er studierte, die japanische Kultur und Mode liebt. Über Pucci oder Gianfranco Ferré plaudert er genauso gerne und natürlich höchst kultiviert wie über den Hausgott der Modepuristen Yoji Yamamoto. Man sieht das seinen reduzierten Entwürfen auch an, ob Anzug oder Washi-Dress. Das Kleid wird in der chinesischen Manufaktur in kleinen Serien gefertigt und dann in die Heerstraße geliefert, auch der Berliner Conceptstore von Andreas Murkudis hat es vorrätig.
Die besondere Griffigkeit durch das Papiergarn erinnert an frisch gewaschenes Leinen, bevor es zu knittern anfängt - nur dass sie eben beständiger ist und angeblich auch nach einem ganzen Sommernachmittag am See nicht erschlafft. Von Starnberg stilvoll direkt zu Wagner, die demnächst anlaufende Festspielsaison bietet interessierten Kundinnen die Möglichkeit zum Test. Um jede überflüssige Naht zu sparen, besitzt das Kleid übrigens kein Etikett. Aber das kleine Label mit dem roten „D“ für „Diehm Bespoke“, so heißt seine Firma, ist in einem Tütchen beigelegt. Ein bisschen Urheberschaft soll schon sichtbar sein, schließlich wird hier an einer Legende mitgestrickt.
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