Unioner gegen Herthaner: Was Fußball-Sticker über Berlin verraten

Als Korrektorin bei der Berliner Zeitung am Wochenende lese ich von Berufs wegen jeden einzelnen Text jeder Ausgabe. Notgedrungen auch den Fußballtext, den ich privat überblättern würde, denn ich interessiere mich nicht für Fußball. Weder den der Herren noch den der Damen, weder den der Vereine noch der Nationen.
Aus unzähligen Artikeln, insbesondere meines geschätzten Kollegen Andreas Baingo, lernte ich so allerlei sowohl über Fußballtexte als auch über Fußballanhänger.
1. Fußballtexte enthalten Synonyme in epischem Ausmaß. Kein Beitrag über Union ohne „Die Eisernen“, „Die Köpenicker“, „Das Ballhaus des Ostens“, „Die Rot-Weißen“, die „Truppe von Trainer Baumgart“, die „Jungs um Kapitän Trimmel“; Hertha ist zwangsläufig mindestens einmal „Die Alte Dame“. Nun lautet die Regel für guten Stil normalerweise: Ein Hund ist ein Hund ist ein Hund. Nicht der beste Freund des Menschen, kein treuer Vierbeiner, keine Fellnase, schon gar nicht Bello oder Wauwau. Nur im Fußball – Metaphern, Synonyme, Insider, Phrasen: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel, das Runde muss ins Eckige, der Ball ist rund und ein Spiel dauert 90 Minuten. Brauchen Fußballleser das so?
2. Für Fußballfans kann es immer nur einen geben. Wer Opern liebt, genießt Darbietungen der Staatsoper ebenso wie der Deutschen Oper. Wen es nach Exzess verlangt, der zerlöchert sein Hirn im Berghain und im KitKatClub. Der Fußballfan, so es ihn überhaupt gibt, der je nach Lust und Laune zu Union- und zu Hertha-Spielen geht, lebt gefährlich. Warum ist eine Stadt mit mehreren Vereinen kein Paradies, sondern eine Kampfzone?
Schöner Nebeneffekt meiner Arbeit als Korrektorin: Ich kann sogar mit Fußballfans vernünftige Gespräche führen. Mein solides Halbwissen war es vielleicht, das bei einem Kneipenabend zu folgender Situation führte: Als ich mich entschuldigte und erhob, um einem Bedürfnis nachzugehen, legte ein bekennender Unioner mit vielsagendem Blick einen rot-weißen Sticker vor mir auf den Tisch. Ich verstand: Er erwartete, dass ich diesen in der Damentoilette anbringe. Ich nahm das Klebebild an mich und betrachtete die Klotür von innen: Sprüche, Telefonnummern, Liebeserklärungen, Sticker zu Emanzipation, Queerness, Partys. Auf dieser Toilette war Fußball kein Thema. Ich steckte den Aufkleber ein und beschloss, mir zunächst ein umfassenderes Bild der Stickerlage zu machen.
Anderntags spazierte ich auf meiner Straße von einer Straßenecke zur nächsten, 331 Meter, und zählte alle Fußballsticker. Sie klebten auf Laternenpfählen, Verkehrsschildern, Fallrohren, Parkuhren, überall, bis zu 13 übereinander, Union meist oben. 545 zählte ich, sicherlich habe ich einige übersehen. Ich stellte fest, dass Herthafans höher kleben, Unionfans hingegen mit diverseren Aussagen verblüffen: Mein Kopf ist ein Fußball, teilt die Ultra Youth mit; alle Polizeibeamten seien unehelicher Herkunft, informiert eine andere Fangruppe. Ich war platt. Eine Stickerdichte von 1,65 Stück pro Meter und Straßenseite, das macht beim öffentlichen Straßennetz Berlins von 5342 Kilometern 17.628.600 Sticker! Fußballfans (k)leben nach ihren Phrasen: Nach dem Kleben ist vor dem Kleben, der Sticker ist rund und auf ein Fallrohr passen 90 Stück, der Runde muss auf den Eckigen.
Hier komme ich auf den Hund zurück. Wenn Bello mit seiner alten Dame Gassi geht und dabei sein Revier markiert, spaziert gleich darauf die nächste Fellnase mit Herrchen vorbei und beduftet genau dieselbe Stelle. Ungefähr so ist das mit den Aufklebern. Nur dass es Menschenmännchen sind, die hier markieren. Angenommen, einen Unioner überkommt auf dem Heimweg von der Alten Försterei ein dringendes Bedürfnis, die Mauer vor der Toilette des Ballhauses des Ostens hatte eisern gestanden, kein Durchkommen möglich, er stellt sich also ins Abseits an einen Zaun. Kaum läuft es jedoch, eilt ein Herthafan hinzu, stellt sich direkt daneben und pinkelt exakt auf dieselbe Stelle. Das wäre extrem befremdlich, oder? In solchen Situationen bewahrt Mann doch eigentlich höfliche Distanz. Warum nicht beim Stickern?
Also vor mich hinsinnend, erblickte ich eine Tischtennisplatte mit einem einzelnen, frisch aufgeklebten Hertha-Sticker. Ich wusste, was zu tun war. Ich kniete nieder und klebte den Union-Sticker in respektvollem Abstand daneben. Da begannen beide Aufkleber zu leuchten, ein goldener Energiestrahl zuckte zwischen ihnen, sie lösten sich von der Tischtennisplatte und schwebten gen Himmel, aus dem sich ein Brausen erhob. In der Nähe ging ein Dornbusch in Flammen auf, und eine Stimme sang: „Freude, schöner Götterfunken“, und eine andere „Alle Menschen werden Brüder“, und eine dritte ergänzte „... und Schwestern!“
Von Stund an verhielten sich auch die Berliner Fußballfans nicht mehr wie die besten Freunde des Menschen, sondern wahrhaftig wie Menschen. Sie wurden gewahr, dass Berlin unser aller Revier ist und also groß genug für alle Klubs – und begegnen einander seither mit Toleranz und Liebe.
Berliner-zeitung