Upcycling: Aus Plastikmüll wird Mode

Gegen Mittag holt Nacho Llorca das Schleppnetz zum zweiten Mal an diesem Tag ein. Mit einem lauten Platschen landet der Fang an Deck des weißen Kutters. Tintenfische, Doraden, Oktopusse aus dem Mittelmeer vor Ibiza, sogar ein paar Hummer sind dabei. Bei wem auch immer die morgen auf dem Teller liegen – besonders gut schmecken dürften sie nicht, wenn die Leute wüssten, dass sie hier zwischen einer alten San-Miguel-Dose und halb verrotteten Plastikflaschen lagen. Aber der Fischer hat den ganzen Müll bereits in eine blaue Tonne gestopft. Sie ist fast randvoll mit Tüten, PET-Flaschen, Joghurtbechern, Windeln, was im Meer eben so herumschwimmt. „Dabei ist das heute vergleichsweise wenig“, sagt Llorca und zieht die rutschende Arbeitshose hoch. „An manchen Tagen kommt doppelt so viel zusammen.“
Früher machten sie damit dann genau das, was sie mit verletzten oder zu kleinen Fischen noch immer tun: Sie warfen einfach alles unter lautem Möwengeschrei zurück ins Meer. „Ich erinnere mich noch, wie wir vor ein paar Jahren die ersten Videoaufnahmen mit Nacho für unsere Website drehen wollten und seine beiden Mitarbeiter den Müll einfach weiter automatisch über die Reling geschmissen haben“, erzählt Javier Goyeneche, während er sich an dem Geländer festhält. Nacho habe sie immer wieder erinnern müssen, dass die Dinge jetzt anders laufen und Plastik ab sofort gesammelt werde. Weil dieser Typ aus Madrid nämlich Kleidung daraus machen wolle.

Javier Goyeneche ist Gründer der spanischen Modemarke Ecoalf, die nicht nur dem Namen nach auf öko macht, sondern von Anfang an zum Ziel hatte, „wirklich nachhaltige“ Kleidung zu produzieren. Wobei er mittlerweile wisse, dass er sich das Leben „wirklich einfacher“ hätte machen können, sagt der 55-jährige Unternehmer matt lächelnd. Das Label setzt ausschließlich auf umweltfreundliche Materialien wie regenerative Baumwolle oder Holzzellstoff sowie auf Recycling. Die Pullover mit dem hauseigenen Slogan „Because there is no planet B“ werden mittlerweile aus 50 Prozent recycelter Baumwolle gefertigt, die Daunenjacken bestehen aus 100 Prozent recyceltem Polyester, während die Tragetaschen aus sogenanntem Ocean Yarn hergestellt sind. Ein Nylonfaden, der aus jenem Plastik gewonnen wird, das Fischer wie Nacho Llorca gerade aus dem Meer geholt haben.
„Umweltfreundlicher zu produzieren, ist immer aufwendiger und teurer, aber das Ozeangarn toppt alles“, sagt Goyeneche. Nicht nur, was den riesigen logistischen Aufwand angehe, sondern weil das Plastik – wie man ja gerade sehe – nach Wochen, Monaten oder Jahren im Salzwasser stark angegriffen und bewachsen sei. Allerdings geht es in diesem Fall nicht nur um optimale Wiederverwertung, sondern auch um ein Herzens- und Prestigeprojekt. Und das fing vor ziemlich exakt zehn Jahren mit genau dem Mann an, der gerade Plastikkörbe voll Fisch in große Kühltruhen hievt.

Nacho Llorca, 54, ein lustiger Costa-Cordalis-Verschnitt mit kleinen Locken, fischte damals noch vor Alicante. Goyeneche hatte zuvor recyceltes Meeresplastik aus Südkorea bezogen, bis ihn jemand von der Provinzregierung anrief und sagte: „Bei uns schwimmt übrigens auch jede Menge Plastik im Meer. Warum nimmst du nicht das, und wir geben dir einen Zuschuss?“ Goyeneche recherchierte nach der geeigneten Technologie, machte sich auf die Suche nach Fischern, die mitmachen würden, und landete irgendwann bei Nacho, dem Vorsitzenden der südspanischen Flotte. Der war zwar ein bisschen überrascht, dass er fürs Sammeln nicht bezahlt werden würde. Dafür leuchtete ihm ein, dass es für ihn und seinen Quasi-Arbeitgeber – das Meer – eigentlich auch wenig Sinn ergab, jeden Tag wieder denselben Müll im Netz liegen zu haben. „Als ich das erste Mal mit rausfuhr, konnte ich nicht glauben, wie viel sich da ansammelte“, sagt Goyeneche. Berechnungen zufolge könnte im Jahr 2050 bereits mehr Plastik als Fisch in den Weltmeeren schwimmen.
Gemeinsam klapperten er und Nacho Llorca die ersten Häfen ab und erzählten den Fischern von ihrem Vorhaben. Mittlerweile arbeitet die dafür gegründete Ecoalf-Stiftung mit mehr als 5000 Fischern in 72 Häfen in Europa, Ägypten und Thailand zusammen und hat seit 2015 nach eigenen Angaben rund 1700 Tonnen Müll aus dem Meer geholt. „Die Fischer zu überzeugen, ist im Vergleich einfach“, sagt Goyeneche „Aber der Papierkram in Frankreich dauerte ganze drei Jahre.“ In Italien warteten sie noch immer auf die Genehmigung für die Abholung, Sortierung und Weiterverarbeitung.
„Wie gesagt, ich könnte mir das Leben um einiges einfacher machen“, wiederholt Goyeneche und lacht. Vor allem jetzt, wo das Thema Nachhaltigkeit alles andere als hot sei. „Als ich die Marke 2009 gründete, verstanden viele unser Konzept noch nicht. Der Einkaufschef vom Kaufhaus Corte Inglés fragte mich damals entgeistert, wer bitte Kleidung aus recyceltem Material kaufen soll, wenn er sie auch ‚in neu‘ haben kann“, erinnert er sich. Goyeneche selbst hatte vorher mit „Fun & Basics“ eine mäßig erfolgreiche Brand für Accessoires betrieben, die alles andere als nachhaltig produzierte. Dann wurde er Vater, wollte umdenken, die Dinge mit einer neuen Marke besser machen. Schließlich holte auch der Zeitgeist auf, und Nachhaltigkeit entwickelte sich zum regelrechten Modethema, das jede Marke irgendwie besetzen wollte. Selbst die großen Ketten entwickelten „Conscious Collections“ und luden zum gemeinsamen Recycling ein. Ecoalf bekam viel Aufmerksamkeit und Preise verliehen, die Umsätze stiegen zweistellig.

Rückblickend war das Jahr 2019 wahrscheinlich so etwas wie der Höhepunkt des grünen Gewissens. Damals veranstaltete Burberry seine erste CO₂-neutrale Fashion Show, Dior ließ den Laufsteg bei der Pariser Modewoche von Bäumen säumen, Marni zeigte Kleider aus recycelten Plastikflaschen. Aktuell wird dagegen lieber jede Menge Kunstpelz präsentiert und zu noch mehr Cruise Shows rund um den Globus geladen. Und die Konsumenten? Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Kantar geben zwar weiterhin 92 Prozent der Leute an, ein nachhaltiges Leben führen zu wollen – aber nur 16 Prozent setzen es letztlich um.
„Ist Nachhaltigkeit aus der Mode gekommen?“, titelte die Website Vogue Business vor gut einem Jahr, wobei sie aus der Frage auch gleich eine Feststellung hätten machen können. Niemand, der im Artikel zu Wort kam, machte einen Hehl daraus, dass umweltbewusste Kollektionen für viele Leute nur ein Trend wie Bordeauxrot oder Barbiepink waren. Irgendwann hat man es satt. „Eine gewisse Ermüdung in Sachen Nachhaltigkeit ist ja leider nicht nur bei der Mode, sondern generell zu beobachten“, bestätigt Moritz Jäger-Roschko, Experte für Kreislaufwirtschaft bei Greenpeace. „All das Greenwashing, das über die Jahre betrieben wurde, hat natürlich auch dazu beigetragen.“ Mango und H&M mussten umweltbewusste Kollektionen wieder vom Markt nehmen, weil sie doch nicht so nachhaltig waren wie versprochen. Er beobachte mit Sorge, sagt Jäger-Roschko, wie stark Discounter wie Temu und Shein jetzt auch in Europa wachsen. Dagegen sind Pioniere wie das von U2-Sänger Bono mitgegründete Label Edun längst wieder weg vom Markt. Der nachhaltige Turnschuh-Hersteller Allbirds steckt in der Krise.
Ecoalf setzte vergangenes Jahr 59 Millionen um, ein Anstieg um 22 Prozent im Vergleich zu 2023. Profitieren die wirklich nachhaltigen Marken also nicht letztlich, wenn der Hype vorbei ist und sich die Spreu vom Weizen trennt? „Das sehe ich ganz anders“, sagt Javier Goyeneche. „Je mehr Marken umweltfreundliche Materialien verwenden, desto besser und günstiger können wir einkaufen und produzieren.“ Wenn er beispielsweise bei einem Hersteller nach Schnürsenkeln aus recyceltem Nylon frage, aber pro Farbe lediglich 2000 Stück bestellen könne, schaue der ihn nur mitleidig an. „Wir sind als Unternehmen immer noch klein“ erklärt Goyeneche. „Und solange die ganz großen Marken innovative Materialien nicht nachfragen, bleibt es schwer, sie überhaupt zu bekommen. Sie werden schlicht nicht entwickelt und produziert.“
Ecoalf konzentriert sich auf Basics: keine Schnörkel, keine TrendsEin gutes Beispiel, wie Nachhaltigkeit in größerem Stil funktionieren kann, sei Materra, ein Zusammenschluss von britischen Unternehmern mit indischen Farmern, um regenerative Baumwolle zu fairen Bedingungen anzubauen. Hier investierte sowohl die H&M-Gruppe als auch der Luxuskonzern Kering, und neben Ecoalf kauft mittlerweile auch die spanische Modekette Mango die Baumwolle ein. „Je mehr Konkurrenz, desto besser für die Umwelt“, sagt Goyeneche.
Warum Ecoalf im Vergleich zu anderen nachhaltigen Marken immer noch wächst, hat mehrere Gründe. Goyeneche verstand von Anfang an, dass er noch so viele Zertifikate und ökologische Labels auf die Etiketten kleben kann – „wenn das Design nicht stimmt, kauft niemand dein Produkt und gibt erst recht nicht mehr Geld dafür aus“, sagt der Gründer. Ecoalf konzentriert sich deshalb auf gute Basics. Keine Schnörkel, keine Trendprodukte. „Einer meiner Söhne hat kürzlich ein Praktikum bei uns gemacht und Kunden nach ihrer Kaufmotivation gefragt“, erzählt er. „Eine Frau kam mit drei riesigen Tüten aus dem Laden, hatte aber nicht die leiseste Ahnung von unserem Engagement.“ Diejenigen, die die Marke kennen, verschenkten sie interessanterweise gern. „Weil sie dann eine Geschichte zu dem Produkt erzählen können. ‚Dein neuer Pullover hat 3000 Liter Wasser eingespart, die Jacke ist aus alten Wasserflaschen gemacht‘ und so weiter“, sagt Goyeneche.
Im Marketingsprech heißt das Storytelling, und das Wort mag der Spanier gar nicht. „Ich finde, wir sind Storydoer, wir reden nicht nur, wir machen auch.“ Als sie etwa feststellten, dass eine ihrer Fleecejacken bei jeder Wäsche 20000 Mikroplastikpartikel abgab, nahmen sie die sofort vom Markt, obwohl sie zu den Bestsellern gehörte. Jetzt ist sie in ähnlicher Form zurück – und verliert noch etwa 0,07 Faserpartikel pro Wäsche. Das Non-Profit-Zertifikat „B Corp“ zählt Ecoalf seit 2022 zu den fünf Prozent der nachhaltigsten Marken. Aus der Modebranche ist dort sonst nur das amerikanische Outdoorlabel Patagonia vertreten.

Der Hafen von Ibiza kommt allmählich in Sicht, das Deck des Kutters ist längst abgespritzt, das Netz aufgerollt. Gleich werden Nacho Llorca und die anderen beiden Fischer die Körbe mit dem Fang in die kleine Lagerhalle bringen, wo er am Nachmittag verkauft wird. Aber vorher bekommen sie von ihrem Freund aus Madrid noch ein neues T-Shirt geschenkt, den Klassiker mit der Aufschrift „Because there is no Planet B“. Wie sie zu dem Spruch gekommen sind, will einer der drei wissen. Zufall, gibt Goyeneche zu. „Wir waren 2014 auf der Messe Premium in Berlin und hatten einen Mini-Stand – mit einer dicken Säule dazwischen, von der uns niemand etwas gesagt hatte.“ Also habe er eine Mitarbeiterin angerufen, dass sie dringend irgendein Plakat auf das hässliche Ding kleben müssten. „Der Spruch ist mir eingefallen, weil ich vorher einen Wirtschaftsartikel gelesen hatte, in dem es um Plan A und Plan B ging. Und ich dachte ständig, ihr habt gut reden. Aber unsere Erde hat keinen Plan B.“
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