Die CDU folgt Merz und Spahn nicht – die Hintergründe sind bemerkenswert

Die verschobenen Wahlen der vorgeschlagenen Kandidaten für das Bundesverfassungsgericht lassen bis heute die Wogen hochschlagen. Wie geht es der CDU? Eine Kolumne.
Der Bundeskanzler hat in der achtwöchigen Sommerpause des Parlaments ausreichend Zeit. Nämlich zu reflektieren, was in seinen ersten rund 70 Tagen Regentschaft erreicht wurde. Aber wohl mehr noch darüber, wofür seine 208 CDU-Abgeordneten eigentlich stehen, wie sie „ticken“ und was sie umtreibt. Mindestens ein Drittel von ihnen ist ihm und seinem Fraktionsvorsitzenden Jens Spahn schlichtweg von der Fahne gegangen, viele stemmten sich mit Erfolg gegen die Wahl der Potsdamer Juraprofessorin Frauke Brosius-Gersdorf. Merz gab später zu, man habe die Stimmung unterschätzt. Und das obwohl wochenlang Zeit für das Ausloten der Meinungen bereitstand; alles hätte somit lange vor der möglichen Abstimmung hinter den Kulissen in Ruhe geordnet werden können.
„Nicht noch mehr Öl ins Feuer gießen“Aus all diesen Gründen hat der Bundeskanzler jetzt ebenso Zeit, das Hauptwerk des Diplomaten und Philosophen Niccolo Machiavelli zu lesen, der in seinem berühmten Standardwerk „Der Fürst“ bereits 1513 hervorhebt: „Denn auch der Mächtigste bedarf der Begünstigung von Einheimischen, um in das Land einzudringen.“ Das soll übersetzt heißen, dass zu Hause, in seiner Partei und in der Fraktion das wahre Machtzentrum liegt. 512 Jahre nach der Erkenntnis des Italieners scheint sich die CDU-Führung nicht an diesen Lehrsatz zu halten. Offensichtlich, und das stimmt bedenklich, kennen sie die Absichten ihrer Fraktion nicht vollständig, hören nicht zu oder andere Schauplätze der Politik scheinen wichtiger.
Hört man in die CDU-Fraktion hinein, so wollen derzeit nur wenige reden, „um nicht noch mehr Feuer ins Öl zu gießen.“ Aber was dann doch zu hören ist, ergibt folgendes Bild: Noch immer sind viele von den innenpolitischen Stockfehlern des neuen Bundeskanzlers enttäuscht, sei es das Schnüren des riesigen Schuldenpakets, das Abstimmungsdesaster bei der Wahl des Kanzlers oder die Niederlage Ende Januar um einen Gesetzentwurf zur Verschärfung der Migration.
„Der Friedrich“ sei eben ein sehr guter Außenpolitiker, aber die parlamentarische Kleinarbeit zu Hause im Lande interessiere ihn nicht allzu sehr. Wir hatten an dieser Stelle vor kurzem darauf hingewiesen, dass Friedrich Merz eigentlich „der neue Außenminister“ sei und sein bisheriges Agieren bestätigt diese These: Merz versteht sich als ehemaliger Business- und Blackrock-Mann gut mit dem erratischen „Dealmaker“ Donald Trump, und das will schon was heißen. Bereits in seiner Regierungserklärung legt der Sauerländer sein Fokus auf die Außenpolitik. Sein Motto und das seiner Koalition: „Deutschlands Freiheit entschlossen gegen alle Feinde verteidigen.“
„Friedrich wollte immer große Politik machen“Die Verteidigungspolitik ist entscheidend, der Wehretat soll von bisher rund 88 auf rund 150 Milliarden US Dollar bis 2029 gesteigert werden. Der Kanzler setzt sich fast täglich für die Ukraine ein und drängt die EU, mit einer Stimme zu sprechen. Seine Beziehungen zu Frankreich und England sind sehr gut, vielleicht kann er sich als europäischer „Leader“ etablieren.
„Aber er ist zu wenig hier“, hört man aus der Fraktion. „Der Friedrich wollte immer große Politik machen.“ Soll heißen, Innenpolitik ist kleines Karo. Aber so klein und unbedeutend ist das Innenleben der Republik gar nicht. Mehr noch, es ist sogar entscheidend. Sozialreformen, ob beim Bürgergeld und Rente, bei der Pflege- oder Krankenversicherung, müssen kommen. Weil diese sozialen Sektoren sonst auf Grund laufen. Weil eben sehr viel Geld in den Wehretat fließt. Niemand sagt das in der Politik deutlich. Und daher versprechen sich viele in der CDU-Fraktion in der Diktion und Wortwahl von ihrer Führung mehr.
Noch eine weitere, erstaunliche Erkenntnis stößt den CDU-Abgeordneten sauer auf. Zu häufig sei ihr Vorsitzender der an Wählerstimmen gerupften SPD zur Seite gesprungen. Wo eigentlich bleibe die konservative Wende? Hierbei hört man insbesondere kritische Stimmen aus Baden-Württemberg und den neuen Bundesländern. Der Kanzler verlässt sich sehr auf den Kanzleramtsminister Thorsten Frei und Generalsekretär Carsten Linnemann, beide nicht regierungserfahren. Und insbesondere vertraut Merz auf seinen Fraktionschef Jens Spahn. Daher fuhr er auch beim Thema Richterin-Wahl einen lässigen Kurs, die Wahl würde doch kein großes Thema sein, der „Jens“ würde es schon richten. Denn dieser ist regierungserfahren.
CDU ist kein Kanzlerwahlverein mehrNur müsste dafür eben auf den Fraktionschef Verlass sein, so wie Angela Merkel lange auf ihren Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder zählen konnte, der lautlos hinter den Kulissen Konflikte abräumte. Aber Jens Spahn, zu sehr mit seiner „Masken-Affäre“ beschäftigt, ließ die Dinge schleifen und begriff vor allen Dingen nicht, dass die CDU kein Kanzlerwahlverein mehr ist, wie sie es unter Kohl und Merkel jahrzehntelang gewesen war. Natürlich waren rechte Medien und Plattformen am Werk, um die vorgeschlagene Potsdamer Juristin zu diskreditieren. Das ist wahrlich schlimm genug. Jedoch viel wichtiger noch ist die Erkenntnis, dass viele CDU-Abgeordnete eben ein Gewissen und eine eigene Meinung haben, selbstständig denkende Bürger, die sich ihre Überzeugung nicht einfach nehmen lassen. Und im Grunde genommen sollte doch so lebendige Demokratie auch funktionieren.In jedem Fall war der Vorfall nicht nur für die Juristin, sondern ebenso für die SPD, Spahn und Merz demütigend. Noch wichtiger ist jedoch, dass auch das Bundesverfassungsgericht, das unsere aller Würde juristisch vertritt, beschädigt wurde. Auch gerade auf der Sommerpressekonferenz wollte sich Merz zum Vorfall nicht weiter äußern. Alles bleibt in der Schwebe.Der Kanzler hat aus all diesen Gründen nun Zeit, nachzudenken. Denn er muss jetzt innenpolitisch Führungsstärke zeigen, die Sozialreformen und das Thema Migration stehen vor der Tür. Da braucht er die Rückendeckung seiner Partei, da benötigt er Loyalität. Denn die Politik ist gnadenlos: Nur dem starken Fürsten folgt man, wie Machiavelli sagt, vom Schwachen wendet man sich ab.
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Berliner-zeitung