Dobrindt fassungslos: Berliner Messerangreifer wieder auf freiem Fuß – Strafen sollen steigen

Zunehmender Antisemitismus, mehr rechtsextremistische Straftaten und die Erkenntnis: Der Konflikt im Nahen Osten hat längst deutsche Städte erreicht. Die aktuelle Statistik zur politisch motivierten Kriminalität 2024 ist daher mehr als ein Weckruf. Mehr als 84.000 politisch motivierte Straftaten wurden bundesweit registriert – so viele wie noch nie seit Einführung der Statistik im Jahr 2001. Ein Anstieg von rund 40 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Besonders besorgniserregend ist die Gewalt. 4107 Taten hatten ein gewalttätiges Motiv, häufig aus dem rechtsextremen Spektrum stammend.
Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) präsentiert die Statistik am Mittwoch mit ernster Miene. Seine Worte offenbaren ein politisches Dilemma: Wie kann ein Staat glaubwürdig Sicherheit garantieren, wenn Gewalttäter frei herumlaufen, Antisemitismus auf den Straßen tobt und die Justiz zugleich überlastet, der Rechtsstaat aber zur Mäßigung verpflichtet ist? Zwischen dem Ruf nach Härte und den Grenzen des Rechts, zwischen Prävention und Repression, droht die Politik ihre Handlungsfähigkeit zu verlieren. Oder zumindest ihre Überzeugungskraft.
All das, was Dobrindt am Dienstag sagt, zeigt den Ernst der Lage. „Der steigende Antisemitismus macht uns große Sorgen“, resümiert der neue Bundesinnenminister. Von den 7328 Straftaten mit Bezug zu Israel oder Palästina hatten 2832 eine eindeutig antisemitische Motivation. Ein Teil davon im Kontext der seit dem 7. Oktober 2023 immer wieder aufflammenden Proteste gegen Israel. „Israel-Hass-Demonstrationen“ nennt es Dobrindt und spricht von einem „importierten Antisemitismus“. Dobrindt spricht von einem „nicht hinnehmbaren“ Ausmaß antisemitischer Gewalt und fordert eine Sicherheitsoffensive von Bund und Ländern. Deutschland dürfe „nicht akzeptieren, dass Straftäter Angst und Schrecken verbreiten, sodass Ehrenamtliche und Politiker ihr Engagement einstellen“.
Doch diese Perspektive greift zu kurz. Denn ein ebenso großer – und wachsender – Teil des Antisemitismus stammt offenbar aus dem rechten Spektrum. In der Vergangenheit wurden allerdings oft nicht zuzuordnende Straftaten automatisch dem rechten Spektrum zugeordnet.
Derzeit gibt es zwei Fronten und ein Problem: 2024 zählte die Polizei 42.788 rechte Straftaten – ein Plus von fast 50 Prozent gegenüber 2023 (28.945). Damit macht der Rechtsextremismus weiterhin den größten Anteil an der politisch motivierten Kriminalität aus. Von den 4107 erfassten Gewalttaten hatten rund 36 Prozent (circa 1500 Taten) einen rechten Hintergrund. Hinzu kommen 6236 antisemitische Delikte insgesamt, ein Rekordwert.
Hasskriminalität: Bedrohungen, Nötigungen, KörperverletzungenBesonders aufschlussreich ist auch der Blick auf sogenannte Hasskriminalität: In fast 19.500 Fällen sah die Polizei „Fremdenfeindlichkeit“ als zentrales Tatmotiv. Dieser Anstieg macht deutlich, dass Ressentiments längst nicht mehr nur geäußert, sondern gewalttätig ausgelebt werden.
Die Analyse des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt liefert ergänzend ein düsteres Bild: 3453 rechte Angriffe wurden für das Jahr 2024 dokumentiert – rund 900 mehr als 2023, das ebenfalls einen Höchststand markiert hatte. Betroffen waren mindestens 4681 Menschen, häufig mehrfach oder langfristig. Besonders betroffen waren Berlin (366 Fälle), Nordrhein-Westfalen (294), Sachsen (213) und Bayern (211).
Die häufigsten Tatmotive: Rassismus (1794 Fälle), Angriffe auf politische Gegner (542), Antisemitismus (354) sowie LGBTIQ-Feindlichkeit (344). Die meisten dokumentierten Taten: Bedrohungen, Nötigungen, Körperverletzungen – oft im öffentlichen Raum, vor Schulen, Flüchtlingsunterkünften oder auf Parteiveranstaltungen.
Für Dobrindt sind die Zahlen auch wegen der Polarisierung der Gesellschaft gestiegen, wie er am Dienstag mehrfach betont. Die Eskalation falle nicht zufällig ins Jahr 2024, es gab die Europawahl, mehrere ostdeutsche Landtagswahlen, die Streitigkeiten der Ampel bis hin zum Bruch. Der CSU-Politiker sieht auch eine Mitverantwortung bei bestimmten politischen Kräften: Gerade die, die bei dieser Polarisierung eine Rolle spielen, seien auch mitschuldig an der Entwicklung, so der Minister am Dienstag.
Bezieht er sich damit auf ein Verbotsverfahren gegen die AfD? Das Bundesinnenministerium winkt nach wie vor ab. Denn das Gutachten des Verfassungsschutzes sei bislang nicht ausreichend. Doch die Entwicklungen, vor allem unter Jugendlichen, lassen aufhorchen. Der Trend zu rechtsextremen Jugendorganisationen nimmt zu, so BKA-Chef Holger Münch, der neben Dobrindt sitzt. Die Täter seien jünger, radikalisierten sich schneller – das Internet wirke dabei oft als Katalysator.
Das plant der Bundesinnenminister gegen die GewalttatenWas die Zahlen nicht zeigen, aber Dobrindt betont: Zu oft fehlt es an schnellen Konsequenzen. Straftäter, die nach Angriffen auf Polizisten oder Messerattacken rasch wieder freikommen, erzeugten ein Bild der Ohnmacht – wie jüngst vor einer Polizeiwache in Neukölln, bei der ein Beamter schwer verletzt worden war. „Ich habe da mehr als ein Fragezeichen“, sagt Dobrindt. Viele Straftaten blieben ohne sofortige juristische Folgen. Die Verfahren dauern zu lang. „Die Strafe muss auf dem Fuße folgen“, fordert der Innenminister.
Die geplante Strafverschärfung bei sogenannten Massenangriffen – künftig soll mindestens ein Jahr Freiheitsstrafe statt wie bislang möglichen sechs Monaten drohen – ist ein Schritt. Dobrindt will es als Verbrechen einstufen. Doch ein Problem besteht weiterhin darin, das mussten Dobrindt sowie Münch einräumen: Auch die beste Gesetzgebung nützt wenig, wenn Justiz und Polizei personell und finanziell unterversorgt sind. Münch warnt daher eindringlich, die Polizei allein könne das nicht mehr stemmen. Es brauche eine breite gesellschaftliche Strategie, nicht nur repressiv, sondern präventiv – angefangen bei der politischen Bildung bis zur digitalen Aufklärung.
Berliner-zeitung