Europaabgeordneter Geisel über den „Mainzer Kreis“ im BSW: „Wir sind keine Rebellen!“

Auf der Vorstandsklausur des BSW in Berlin dürfte auch der „Mainzer Kreis“ ein Thema sein. Was will die parteiinterne Gruppe? Ein Interview mit dem Initiator Thomas Geisel.
Wenn das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) am Wochenende seine Klausurtagung abhält, stehen große Themen auf der Tagesordnung. Der Parteiaufbau beispielsweise, die nächsten Wahlen. Die Mitglieder des Bundesvorstands und die Landesvorsitzenden werden also viel zu besprechen haben.
Ob es in dem Hotel am Berliner Hauptbahnhof auch um das Ergebnis der Bundestagswahl gehen wird, das knappe Scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde? Um eigene Fehler in der Kampagne, der Kommunikation?
Thomas Geisel, der für das BSW im EU-Parlament sitzt und bei der Tagung dabei sein wird, fordert eine Debatte darüber, was im Wahlkampf falsch lief. Geisel ist Initiator des „Mainzer Kreises“, eine Gruppe aus rund 20 BSW-Mitgliedern, die sich vor gut einem Monat erstmals in der rheinland-pfälzischen Hauptstadt trafen. Von einer Revolte oder einem konspirativen Zusammenschluss will Geisel nicht sprechen. Doch was ist es dann? Darüber sprach er mit der Berliner Zeitung.
Herr Geisel, wie ist der „Mainzer Kreis“ entstanden?Die Idee kam in der Tat von mir. Mein Bestreben war, Personen miteinander ins Gespräch zu bringen, die die ganze Breite des BSW repräsentieren. Das ist, glaube ich, ganz gut gelungen. Zum ersten Treffen kamen Personen, die im BSW Führungsfunktionen ausüben oder Mandatsträger sind, aber auch normale Mitglieder und Unterstützer, Personen mit unterschiedlichem parteipolitischen Hintergrund, BSW-Politiker aus Ost und West und Bund und Ländern. Die Auswahl war naturgemäß ein wenig willkürlich, da der Kreis nur so groß sein sollte, dass noch eine Diskussion, die diesen Namen verdient, möglich war. Das Treffen war nicht geheim und schon gar nicht konspirativ. Es sollte auch ausdrücklich nicht darum gehen, irgendeine politische Richtung innerhalb des BSW zu repräsentieren oder eine Art Strömung zu bilden. Die Idee, diese Zusammenkunft als „Mainzer Kreis“ zu bezeichnen, kam übrigens erst beim Folgetreffen in Erfurt am letzten Wochenende auf.
Wusste Ihre Vorsitzende Sahra Wagenknecht vor dem ersten Treffen davon?
Ja, natürlich.
Warum das Ganze?
Mein Hauptanliegen war und ist, darüber zu diskutieren, wie die Partei nach dem enttäuschenden Ergebnis bei der Bundestagswahl wieder – wie es so schön auf Neudeutsch heißt – „Momentum“ gewinnen kann. Dabei geht es vor allem um die Frage, wie wir uns inhaltlich und strukturell aufstellen müssen, um das erhebliche Potenzial zu heben, das eine Partei, die für Vernunft und Gerechtigkeit steht, hat. Bei der Europawahl und den Landtagswahlen im Osten ist uns das ja noch ganz gut gelungen.
Waren auch Mitglieder des Bundespräsidiums dabei?Ralph Suikat, der Schatzmeister, war eingeladen. Aber er musste aus terminlichen Gründen absagen.
Es hätte doch auch jemand anderes aus der Parteispitze eingebunden werden können. Die Co-Vorsitzende Amira Mohamed Ali zum Beispiel. Oder der Generalsekretär Christian Leye.
Hätte man natürlich machen können. Aber die Auswahl der Teilnehmer war aus den bereits genannten Gründen in der Tat ein bisschen willkürlich und erhob nicht den Anspruch auf Vollständigkeit.
Der thüringische Landesminister Steffen Schütz war bei beiden Treffen dabei. Der Thüringer Allgemeinen sagte er, er wolle verhindern, dass sich das BSW zu einer „Linken 2.0“ entwickle. Treibt das auch Sie um?
Der Anspruch des BSW, keine Linke 2.0 zu sein, stammt ja aus der Rede von Sahra Wagenknecht beim Gründungsparteitag im Januar letzten Jahres. Dieser Anspruch ist richtig und muss auch umgesetzt werden, wenn die Partei ihr Potenzial ausschöpfen möchte. Dabei geht es um inhaltliche und strukturelle Fragen, aber natürlich auch um das Personal, das unsere Partei repräsentiert.
Ihr Generalsekretär verweist darauf, dass der „Mainzer Kreis“ lediglich eines von vielen Formaten des Austauschs im BSW sei. Zugleich ist aus der Partei zu hören, dass man sich in der Bundesspitze nicht gerade darüber freut. Können Sie das nachvollziehen?
Ich stimme Christian Leye zu, dass es im BSW informelle Strukturen gibt, die etwa bei der Gründung von Landesverbänden, bei der Auswahl von Führungspersonal und der Aufstellung von Landeslisten zusammengewirkt haben. Das gibt es in allen Parteien. Und deshalb ist dagegen auch gar nichts zu sagen, solange die Vorgänge einigermaßen transparent sind. Das Treffen in Mainz und das Folgetreffen in Erfurt waren transparent und insbesondere der Parteiführung bekannt. Insofern war ich doch ein wenig überrascht, dass der eine oder die andere in der Parteiführung hierüber offensichtlich nicht „amused“ waren.
Die Sache ist doch, dass Netzwerke einer Parteispitze gefährlich werden können. Auf einem Bundesparteitag etwa, wie ihn das BSW im November abhalten will. Wenn ein Präsidium neu gewählt wird, geht es schlicht um Mehrheiten.
Ich darf nochmals betonen: Es geht darum, eine Diskussion in der Breite der Partei zu ermöglichen, und nicht darum, Absprachen für einen Parteitag treffen. Ich freue mich natürlich, wenn von diesen Treffen Impulse ausgehen, die von der Parteispitze dann auch aufgenommen werden. Aber wir sind keine Rebellen, sondern wollen ein Gesprächsforum in der Breite unserer Partei sein!
Viele, auch prominente Stimmen im BSW vermissen eine transparente Analyse der Bundestagswahl. Da geht es um Fragen wie die, ob die Kampagne gut geplant war. Oder ob es richtig war, wie die AfD für das Zustrombegrenzungsgesetz der Union zu stimmen. Spricht der „Mainzer Kreis“ auch darüber?
Natürlich geht es auch um die Analyse und Aufarbeitung des Wahlergebnisses. Das BSW hat unmittelbar nach der Wahl sehr viel Zeit und Energie in die Anfechtung beziehungsweise Neuauszählung des Wahlergebnisses investiert. Das hatte natürlich seine Berechtigung, zumal wir denkbar knapp an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert sind, und es nachweislich recht viele Pannen und Fehler zu Lasten des BSW bei der Auszählung gegeben hat. Aber mal abgesehen davon, dass wir darum eine komplette Neuauszählung fordern: Unser Fokus muss jetzt darauf liegen, die – auch selbstverschuldeten – Ursachen für das enttäuschende Wahlergebnis zu identifizieren und die entsprechenden Lehren daraus zu ziehen.
Was lief denn falsch vor der Bundestagswahl?Auf der einen Seite lief politisch das eine oder andere nicht gerade optimal: Die Beteiligung an der Brandmauer-Diskussion in Thüringen beispielsweise war für einen erheblichen Teil unseres Wählerpotenzials nicht ganz nachvollziehbar; und das Abstimmungsverhalten unserer Bundestagsgruppe in der Migrationsfrage stieß bei wesentlichen Teilen unserer Klientel auf Unverständnis. Es hätte zumindest eher kommuniziert und ausführlicher begründet werden müssen.
Geschadet hat uns nach meiner Einschätzung auch die fortgesetzt sehr zögerliche Haltung bei der Aufnahme neuer Mitglieder nach der Europawahl. Das hat nicht nur für zunehmenden Frust bei vielen Sympathisanten gesorgt, die uns noch bei der Europawahl mit großer Begeisterung unterstützt haben; die dünne Personaldecke war auch mitursächlich dafür, dass wir in manchen Wahlkreisen bei der Bundestagswahl keine Direktkandidaten aufstellen konnten. Dass wir dann auf Präsidiumsbeschluss fast gar nicht in Wahlkreisen angetreten sind, hat uns viel Präsenz gekostet, und da haben wir Engagement regelrecht ausgebremst. Allein die Vor-Ort-Aktivitäten in den Wahlkreisen hätten uns locker über die fünf Prozent gebracht.
Dann muss es Sie doch freuen, dass das BSW nun schneller Mitglieder aufnehmen will.
Ja, das halte ich in der Tat für eine sehr gute Entscheidung. Vor allem finde ich es sehr gut, dass Mitglieder nicht mehr gezielt ausgewählt werden, sondern grundsätzlich jeder, der sich zu unseren Grundwerten und unserer Programmatik bekennt, willkommen ist. Wir haben jetzt auch weitere gute Beschlüsse zum Parteiaufbau gefasst, der Aufbau der regionalen Gliederungen läuft, und es sollen Facharbeitsgruppen auf Bundesebene entstehen.
Und dafür setzt sich auch der „Mainzer Kreis“ ein?
Wir unterstützen alle die Weiterentwicklung der Partei. Die Personen, die sich in Mainz und Erfurt getroffen haben, verstehen sich nicht als innerparteiliche Fraktion oder „Pressure Group“. Allerdings zeigte sich in den Diskussionen, die wir geführt haben, dass das BSW am ehesten erfolgreich sein wird, wenn wir uns weiter zu einer Partei mit transparenten Strukturen und demokratischer Willensbildung entwickeln.
Die Bundesspitze konnte man so verstehen, dass vor allem die Thüringer Parteiführung um Katja Wolf für das Wahlergebnis verantwortlich war. Für eine Koalition mit CDU und SPD habe man das eigene Profil verwässert, heißt es.
Damit macht man es sich meines Erachtens zu einfach. Auch ich sehe einige Entscheidungen in Thüringen kritisch; wie schon erwähnt, beispielsweise die „Brandmauer“-Diskussion; und vielleicht wäre auch hie und da ein wenig mehr Distanz zum Koalitionspartner angebracht. Allerdings habe ich keinerlei Verständnis, wenn – wie im Vorfeld des letzten Parteitags dort – der Eindruck entstehen kann, dass die Bundesspitze versucht, die örtliche Parteiführung zu diskreditieren und abzusetzen. So etwas schadet erfahrungsgemäß am Ende der Partei insgesamt. Wir stehen vor schwierigen Aufgaben. Schauen Sie sich die politische Entwicklung an, die Aufrüstungsbegeisterung, die Pläne für einen Krieg gegen Russland spätestens 2030. Solche internen Auseinandersetzungen kann man in dieser Situation nicht gebrauchen.
Berliner-zeitung