Friedrich Merz und die Arbeitszeitdebatte: Ausweitung der Erwerbszone




Fordert mehr Einsatz und Engagement: Bundeskanzler Friedrich Merz
Foto: Yauhen Yerchak / ZUMA Press Wire / IMAGOFriedrich Merz hat einen Nerv getroffen, und es scheint wehzutun.
In seiner Regierungserklärung hat der Kanzler mehr Einsatz und Engagement gefordert. Die Reaktionen darauf schwanken zwischen frenetischer Zustimmung und heftiger Ablehnung. Rauf und runter diskutieren die Bundesbürger, ob sie mehr arbeiten sollten, müssten, könnten. Ob Feiertage gestrichen werden müssen, um den „Standort“ zu retten. Ob selbst ernannte Leistungsträger und andere Privilegierte überhaupt (moralisch gesehen) das Recht haben, anderen vorzuschreiben, wie viel sie zu arbeiten haben. Ob die Betreuung von Kindern und Angehörigen, Ehrenamt und Vereinsleben nicht gleichwertig mit Erwerbsarbeit zu bewerten sind. Ob wir nicht ohnehin allesamt burn-out-reif überarbeitet sind.
Wirtschaftsforscher argumentieren mit internationalen Vergleichszahlen – durchschnittliche Wochen-, Jahres- und Lebensarbeitszeiten, gesamtwirtschaftliches Arbeitsvolumen, Beschäftigungsquoten. Ergebnis: Die Erwerbsbeteiligung ist hoch, aber die Arbeitszeiten sind kurz.
Und dann gibt es auch noch den Generationenkonflikt zwischen den lazy boomern und der Chill-out-Generation Z. Die einen haben erst im fortgeschrittenen Erwachsenenalter angefangen zu arbeiten, dann im Schnitt zu wenige Kinder großgezogen, was sie jetzt nicht daran hindert, frühzeitig in den Ruhestand wechseln. Die anderen sorgen sich um ihre Work-Life-Balance, noch bevor die Sache mit dem Work so richtig losgegangen ist – um die wechselseitigen Vor- und Fremdurteile mal mit einem groben Pinsel zu skizzieren.
Genau besehen geht der Konflikt noch tiefer. Letztlich geht es um unsere nationale Identität. Im Hintergrund schwingt stets die Frage mit, wer wir als Gesellschaft sind. Wenn es so etwas gibt wie deutsche Tugenden, dann gehört Fleiß eindeutig dazu, ebenso wie Ordnung und Pünktlichkeit, wie sich auch immer wieder in Umfragen zeigt. Die Deutschen sind eine Nation, die sich traditionell zuerst als Erwerbsgemeinschaft sieht und daher Fleiß zu einer ihrer besten Eigenschaften zählt.
Leider werden wir unseren eigenen Ansprüchen nicht mehr gerecht. Dadurch klafft eine höchst unangenehme Diskrepanz zwischen kollektivem Selbstbild und gesellschaftlicher Wirklichkeit. Was auch bedeutet: Wenn wir nicht mehr richtig schaffen, dann fühlt sich die deutsche Identität bedroht.
Wie kommen wir aus diesem Konflikt heraus? Hier sind drei Thesen: 1. Die Bundesbürger müssen nicht unbedingt mehr Stunden pro Woche arbeiten, aber sie müssen sich dringend eine ganze Menge Neues einfallen lassen. 2. Sie sind nicht unbedingt faul, sondern haben sich in einer arbeitsfeindlichen Umwelt eingerichtet. 3. Obwohl sich die Lebenserwartung (glücklicherweise) drastisch verlängert hat, erweisen sich die Muster der Zeitverwendung über die verschiedenen Lebensphasen hinweg (unglücklicherweise) als erstaunlich stabil. Das wird nicht gut gehen.
Beginnen wir mit der Frage nach den wirtschaftlichen Notwendigkeiten. Müssen wir mehr arbeiten, um nicht zu verarmen?
Entscheidend für die langfristige Wohlstandsentwicklung ist die Veränderung des Produktionspotenzials. Darin drückt sich aus, wie viel Arbeit, Kapitalgüter und Wissen zur Verfügung stehen, um Dienstleistungen und Güter anbieten zu können. Vor zehn Jahren war Deutschland in dieser Hinsicht noch in guter Verfassung . Die Kapitalausstattung nahm zu, die Produktivität ebenso, vor allem aber stieg die Beschäftigung ziemlich dynamisch, insbesondere durch Zuwanderung in den Arbeitsmarkt aus dem übrigen Europa. Deutschland befand sich auf einem Wachstumspfad von etwa 1,5 Prozent jährlich. Sicher kann man sich immer noch mehr wünschen. Aber für eine alternde Gesellschaft war das damalige Deutschland-Tempo beachtlich.
Seither haben sich die Dinge drastisch verschlechtert. In den vergangenen Jahren sind die Investitionen in Deutschland immer weiter abgesackt. Der Produktivitätszuwachs ist weitgehend zum Erliegen gekommen. All die versprochenen produktivitätssteigernden Effekte durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz zeigen sich nicht in den Statistiken, jedenfalls noch nicht; womöglich werden sie auch in Zukunft ausbleiben. (Sollte KI tatsächlich zum großen Produktivitätsbooster werden, stellen sich ganz andere Fragen.)
Vor allem aber sinkt das Beschäftigungspotenzial. Trotz Zuwanderung stehen immer weniger Menschen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Die Babyboomer (zwischen 1955 und 1969 geboren) verabschieden sich nach und nach in den Ruhestand – die nachfolgenden Kohorten sind zu klein, um sie ersetzen zu können.
Dies ist das Kernproblem: Das bisherige beschäftigungsgetriebene Wachstumsmodell hat seine Haltbarkeitsgrenze überschritten.
Druckabfall am ArbeitsmarktInsofern muss man sagen: Es würde helfen, wenn die im Arbeitsmarkt verbliebenen Boomer ihre Erwerbsphase ein paar Jahre verlängern würden. Bislang gehen sie im Schnitt zwei Jahre vor der Regelaltersgrenze (derzeit gut 66 Jahre) in den Ruhestand.
Eine Ausdehnung der Erwerbszone um wenige Jahre, insbesondere für jene, die hoch qualifiziert und immer noch -produktiv sind, könnte den Druckabfall am Arbeitsmarkt wenigstens teilweise ausgleichen. Ähnliches gilt für Teilzeitbeschäftigte – 40 Prozent der Beschäftigten, die im Schnitt gut 20 Stunden pro Woche arbeiten. Jede Stunde mehr im Job würde dem Potenzialrückgang entgegenwirken. Und selbstredend wird die Zuwanderung auf bisherigem Niveau bleiben müssen, sonst droht eine Implosion des Arbeitsmarkts.
Aus ökonomischer Sicht ist die Sache eindeutig: Wenn diejenigen, die können, etwas mehr Zeit produktiv im Job verbringen, wäre einiges gewonnen. Die Alternative ist wenig attraktiv: Immer mehr Leute sitzen mit wenig Geld zu Hause und tun immer mehr Dinge selbst.
Aber: Wenn hoch qualifizierte Beschäftigte fehlen, weil sie im Ruhestand sind, unterbleiben hochproduktive Investitionen in innovative Branchen. Wenn es zu wenig Handwerker und andere Dienstleister gibt, müssen Leute selbst Hand anlegen, statt Dinge zu tun, in denen sie richtig gut sind. Wenn es zu wenige Pflegekräfte gibt, müssen Angehörige ihre Arbeitszeit reduzieren, womöglich auf null. Und so weiter. In der Folge entwickelt sich die arbeitsteilige Gesellschaft zurück zu einer Do-it-yourself-Veranstaltung. Sinkende Wirtschaftskraft, verschärfte Verteilungskämpfe und rückläufige Einkommen wären die mutmaßlichen Folgen.
Mit moralischen Appellen allerdings wird es nicht gelingen, Leute zur Ausweitung ihrer Arbeitszeit zu bewegen. Dafür braucht es finanzielle Anreize. Und da hat sich in Deutschland seit Langem nichts bewegt.
Sind die Deutschen zu faul?Die gegenwärtige Debatte erinnert an die frühen 2000er-Jahre. Damals führten wir bereits Diskussionen darüber, ob die Deutschen zu faul seien. Leider hat sich an den Anreizen, die vom Steuer-, Abgaben- und Transfersystem ausgehen, substanziell wenig geändert. Außer bei Arbeitslosen und Geringverdienern, die damals im Fokus der Hartz-Gesetze standen, ist es dabei geblieben, dass Mehrarbeit für viele Beschäftigte finanziell unattraktiv ist.
Entsprechend haben sich seither weitere Kohorten eingerichtet in einer arbeitsfeindlichen Umgebung: einem System, das Arbeitszeitverkürzungen subventioniert, gerade von Gering- und Durchschnittsverdienern, durch hohe Abgabenlasten auf jeden zusätzlich verdienten Euro. Das Ehegattensplitting bei der Einkommensteuer fördert Teilzeitbeschäftigung, gerade von Ehefrauen. Und vom abschlagsfreien Rentenzugang nach 45 Beitragsjahren („Rente mit 63“) profitieren gerade produktive Gutverdiener.
Sicher, Rentner dürfen seit einiger Zeit anrechnungsfrei hinzuverdienen. Die neue Bundesregierung plant eine „Aktivrente“, also Steuernachlässe für Rentner, die noch ein bisschen weiterarbeiten. Doch Teilzeit für alle ist keine befriedigende Antwort auf die anstehenden Herausforderungen.
Dänemark hat gerade die Rente mit 70 beschlossen. Es ist absehbar, dass andere Länder auf diesem Weg folgen werden. Spielräume gibt es einige, da die Lebenserwartung immer weiter steigt und die Zahl an Jahren bei guter Gesundheit zunimmt. Doch bei uns spiegelt sich das bislang kaum im Verhalten wider.
Alle zehn Jahre erhebt das Statistische Bundesamt, wie die Bundesbürger ihre Zeit verbringen . Die letzte Untersuchung wurde voriges Jahr veröffentlicht. Dabei zeigt sich, dass die Verhaltensmuster ziemlich stabil sind, auch über Generationengrenzen hinweg. Die Zeitnutzung insgesamt hat sich demnach über Jahrzehnte kaum verändert: Die Jungen lernen und haben reichlich Muße. Die Erwachsenen arbeiten und kümmern sich um andere: Um die 40 sind die Tage am vollsten; im Schnitt sind die Leute dann acht Stunden am Tag für Wirtschaft, Familie und Gesellschaft im Einsatz. Sie sind konfrontiert mit der geballten Verantwortung für Job, Kinder, Eltern. Dazu kommt eine immer noch vitale Zivilgesellschaft, wo Bürger in ihrer Freizeit in Vereinen und privaten Vereinigungen das soziale Grundgerüst stabilisieren. Die Sandwich-Generation der mittleren Altersgruppen ist aktiv, man kann es nicht anders sagen.
Mit fortschreitendem Alter fällt das Aktivitätsniveau allmählich. Jenseits von Mitte 60 geht es dann rapide abwärts. Der „Ruhestand“, ob „wohlverdient“ oder nicht, lockt. Das Engagement in Job, Care-Arbeit und Ehrenamt lässt erheblich nach.
Man setzt sich zur Ruhe, auch wenn viele dann noch über erhebliche Energiereserven verfügen. Natürlich gibt es jede Menge Ausnahmen von dieser Regel. Aber im großen Durchschnitt erweist sich das tradierte biografische Muster als hartnäckig, beständig.
Ich fürchte, so kommen wir nicht weiter. Eine Gesellschaft, in der ein immer größerer Teil der Bevölkerung von der Seitenlinie aus zuschaut, obwohl viele dieser Leute eigentlich in der Lage wären, sich aktiv einzubringen, läuft Gefahr, in Unzufriedenheit zu versauern. Eigentlich könnten alle miteinander mehr auf die Reihe bringen – mehr und länger arbeiten und überhaupt mehr für andere leisten, auch unentgeltlich . Aber irgendwelche Hinderungsgründe stehen dem im Wege: absurde Anreize im Sozial- und Steuersystem, überkommene gesellschaftliche Normen.
Montag
Braunschweig – Dicke Luft – Geplantes Urteil im Prozess um betrügerische Abgassysteme bei Diesel-Fahrzeugen gegen vier ehemalige Volkswagen-Mitarbeiter.
HV-Saison I – Hauptversammlungen von Deutsche Wohnen, Leonardo.
Dienstag
HV-Saison II – Hauptversammlungen von Daimler Truck, Zalando, Fraport, Kion, Bechtle, Hensoldt, Medios, Krones, Merck & Co.
Mittwoch
Nürnberg – Joblücke – Die Bundesagentur für Arbeit veröffentlicht ihren Arbeitsmarktbericht für Mai. Zuletzt waren die Arbeitslosenzahlen gestiegen, insbesondere wegen Jobverlusten in der Industrie.
Peking – Chiropa als Chimäre – Die EU-Handelskammer in China stellt ihre Stimmungsumfrage unter vor Ort tätigen europäischen Unternehmen vor. Zuletzt hatte es immer wieder Forderungen nach einer Annäherung zwischen China und Europa gegeben, angesichts der Unwägbarkeiten des Trump-Amerika. Angesichts der Umstände im Land dürfte sich dies als schwierig erweisen.
HV-Saison III – Hauptversammlungen von Vonovia, Evonik, ProSiebenSat.1, Carrefour, LEG, STMicroelectronics, Meta, Mattel, GE Healthcare, Juniper.
Berichtssaison I – Geschäftszahlen von Accor, Nvidia, Dell, Costco, HP, Kingfisher.
Freitag
Wiesbaden – Teures Deutschland – Das Statistische Bundesamt legt eine erste Schätzung zur Inflationsrate im Mai vor.
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