Ob Brosius-Gersdorf Richterin wird oder nicht: Das kaltblütige Kalkül der SPD geht auf

Politik lebt von taktischem Kalkül. Wissenschaft von Rationalität. Und Esoterik von schicksalhaften Zeichen. Nicht jedem scheint die Funktionslogik des jeweils anderen Systems klar zu sein. Ein fataler Fehler. Denn hätte Frauke Brosius-Gersdorf sich die Karten legen lassen, hätte sie das Angebot der SPD, als Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht aufgestellt zu werden, vermutlich abgelehnt.
Ihre Kandidatur stand von Anfang an unter keinem guten Stern. Schon ihr Doktorvater Horst Dreier scheiterte 2008 bei der Wahl zum Verfassungsrichter. Und bereits seit der missglückten Kanzlerwahl hätte klar sein sollen: Diese Koalition steht nicht vor dem Abgrund, sie balanciert längst an dessen Rand.
Während die SPD sich als moralische Instanz inszeniert, geht die Juristin badenSterne, Karten, schlechte Omen? Unwissenschaftlicher Hokuspokus. Doch das Feld, auf das sich Brosius-Gersdorf begeben hat, lebt von Irrationalität und Unberechenbarkeit. Denn während Schuldige gesucht und eine vermeintlich große Richterwahlverschwörung aufgedeckt werden, gerät die Verantwortung der SPD, die demonstrativ zu ihrer Kandidatin hält, aus dem Blick. Denn was ist, wenn die inszenierte Loyalität im Kern ein anderes Ziel verfolgt?
Wenn die Solidarität nur Fassade und in Wahrheit der Startschuss für ein kontrolliertes Scheitern gewesen ist? Während die SPD sich als moralische Instanz inszeniert, geht eine Juristin unter. Vor den Augen der Öffentlichkeit.
Rückblick: Anfang Juli schien alles glatt zu laufen. Eine Einigung auf drei neue Verfassungsrichter war erzielt, darunter zwei Juristinnen aus dem Vorschlagsrecht der SPD: Ann-Katrin Kaufhold und Frauke Brosius-Gersdorf. Letztere, Rechtswissenschaftlerin und Professorin an der Universität Potsdam, gilt als profilierte Staatsrechtlerin mit fundierter Expertise. Der Wahlausschuss nickte die Personalie mit Stimmen der Union ab.
Der Wahltermin für den 11. Juli war gesetzt – und mit ihm der Beginn der parlamentarischen Sommerpause. Doch bereits kurz nach dem Votum im Wahlausschuss kippte die Stimmung. In einzelnen Medien ist die Rede von einer „orchestrierten Aktion“, die von Abtreibungsgegnern, rechtspopulistischen Medien und dem Umfeld der AfD initiiert und gesteuert wurde.

Die Nachrichtenplattformen Apollo News und Nius sollen nach Bekanntgabe der Nominierungen gezielt gegen Brosius-Gersdorf Stimmung gemacht haben. In diesem Zusammenhang geht es um mehrere Texte, in denen Brosius-Gersdorfs Positionen zum Thema Gleichstellung, Impfpflicht, AfD- und Kopftuchverbot thematisiert werden.
So sprach sich die Potsdamer Professorin, im Juli 2024 zu Gast bei Markus Lanz, für ein AfD-Verbotsverfahren aus, sofern es genug Material gibt. Ein solches Verfahren könne „ein ganz starkes Signal unserer wehrhaften Demokratie“ sein. Das Problem – die Anhängerschaft der Alternative für Deutschland werde auch ein Parteiverbot nicht „beseitigen“. Eine Formulierung, die sie später als „nicht glücklich“ bezeichnete.
Der Schutz ungeborenen LebensAn ihrer grundsätzlichen Position hält sie aber fest: Wenn nach sorgfältiger Prüfung genügend Indizien für verfassungsfeindliche Ziele vorlägen, müsse der demokratische Rechtsstaat handeln können. Eine Einstellung, die der SPD gelegen kommt. Die Sozialdemokraten haben sich auf ihrem Parteitag vor drei Wochen einstimmig darauf geeinigt, ein AfD-Parteiverbot vorzubereiten.
Aber nicht nur diese öffentlichkeitswirksame Positionierung brachte das vermeintliche stabile Richterwahlgerüst ins Wanken. Brosius-Gersdorfs Haltung zum Schutz ungeborenen Lebens setzte noch eins drauf.
Insbesondere ein Satz, den die Juristin als Expertin in einem Rechtsausschuss zur Reform des Schwangerschaftsabbruchs sagte, sorgte für Diskussion: „Meines Erachtens gibt es gute Gründe dafür, dass die Menschenwürdegarantie erst ab Geburt gilt.“ Was aus ihrer Perspektive als verfassungsrechtliche Einordnung im Rahmen einer differenzierten Anhörung gemeint war, wurde in der medialen und politischen Debatte zu einer „linkextremistischen“ Weltanschauung erklärt.
Vertreter der Union und mehrere katholische Bischöfe warfen Brosius-Gersdorf vor, das Lebensrecht ungeborener Kinder infrage zu stellen. Nius-Chefredakteur Julian Reichelt verbreitete die Behauptung, die Anwärterin für das Richteramt am Bundesverfassungsgericht halte „Abtreibung bis zum 9. Monat“ für verfassungskonform – ein Vorwurf, den Brosius-Gersdorf als falsch und „infam“ zurückweist. Fest steht, dass die Frage, ab wann die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes greift, unter Juristen umstritten ist.
Frauke Brosius-Gersdorf argumentiert, dass es aus Sicht des geltenden Rechts gute Gründe für die Auffassung gebe, die Menschenwürdegarantie greife erst mit der Geburt, ohne damit das grundsätzliche Schutzbedürfnis des ungeborenen Lebens infrage zu stellen. Eine Argumentation, die in Wissenschaftskreisen durchaus Anklang findet, in großen Teilen der Unionsfraktion jedoch für Entsetzen sorgte.

Spätestens dann, am Vorabend der geplanten Wahl, hätte die SPD das bereits lodernde Feuer, das sich rings um Frauke Brosius-Gersdorf ausgebreitet hatte, löschen können, indem sie bekanntgegeben hätte, dass die Wahl vertagt wird. Stattdessen stellte sich die Sozialdemokratie demonstrativ hinter ihre Kandidatin, was der Verwendung eines Brandbeschleunigers gleichkam.
Denn mit jedem Tag, an dem sie an der Nominierung festhält, wird das, was als Zeichen von Standhaftigkeit gedacht war, mehr und mehr zur zynischen Übung in Selbstverblendung. Die SPD ließ sich als moralische Bastion feiern, während sich ihre Kandidatin in TV-Shows für ihre Positionen rechtfertigte.
Wer die Deutungshoheit beansprucht, glaubt sich im Recht und irrt fatalBrosius-Gersdorf wurde zum Spielball politischen Kalküls. Von außen wirkt das Verhalten der SPD wie ein Akt der Prinzipientreue. Doch es stellt sich die Frage, ob die Sozialdemokraten nicht gezielt auf ein Scheitern gesetzt hatten, um den Spieß anschließend umzudrehen und der Union die Schuld für eine geplatzte Richterwahl in die Schuhe zu schieben. Wer so denkt, unterstellt der SPD keine Schwäche, sondern ein politisch durchkalkuliertes Manöver mit maximalem Eskalationspotenzial.
Nicht einmal als die Zahl der kritischen Stimmen in der Unionsfraktion wuchs und erste Berichte davon sprachen, dass 30 bis 60 Abgeordnete die Wahl blockieren könnten, kam von der SPD ein strategisches Umdenken. Kein Signal des Einlenkens, keine alternative Personalie, kein erkennbarer Versuch der Deeskalation. Nur Durchhalteparolen und die gebetsmühlenartige Wiederholung, man lasse sich nicht von „rechten Kampagnen“ treiben. Doch genau das ist längst geschehen.
Die Pose der Standfestigkeit hat längst den Bezug zur Realität verloren. Wer die Deutungshoheit beansprucht, glaubt sich im Recht und irrt fatal.
Die Partei hätte jederzeit den Rückzug ihrer Kandidatin erklären können, mit Verweis auf das beschädigte Verfahren, auf persönliche Anfeindungen, auf eine verrohte Debattenkultur. Die Liste an Gründen ist lang. Ein Rückzug nach dem Votum des Richterwahlausschusses, aber vor der finalen Abstimmung im Bundestag wäre rechtlich problemlos möglich gewesen. Denn der Ausschuss gibt lediglich eine Empfehlung ab, die eigentliche Wahl erfolgt erst mit der nötigen Zwei-Drittel-Mehrheit im Plenum.
Solange dieser Schritt nicht vollzogen ist, kann die vorschlagende Fraktion den Namen zurückziehen oder eine Kandidatin selbst erklären, dass sie nicht mehr zur Verfügung steht. Formal unproblematisch, wäre ein solcher Schritt politisch dennoch heikel: Er hätte den Druck auf die Union zwar genommen, zugleich aber die eigene Schwäche im Verfahren offengelegt. Trotzdem hätte er die Würde der Kandidatin bewahren können und der Koalition weiteren Schaden womöglich erspart.
Doch stattdessen überließ man es Brosius-Gersdorf selbst, sich zu rechtfertigen, sich zu erklären, sich zu verteidigen. Klein beigeben? Für die SPD keine Option. Die Oberwasserwelle, die die Sozialdemokraten seit der Bundestagswahl surfen, wird anscheinend bis zum bitteren Ende geritten.
Um welchen Preis? Die Koalition ist schwer beschädigt, das Verfahren entgleist und die Unabhängigkeit des höchsten Gerichts wird plötzlich zur Verhandlungsmasse politischer Machtspiele. Anstelle einer klugen Kurskorrektur demonstrierte die SPD bis zuletzt sture Prinzipienreiterei. Statt die Lage realpolitisch zu bewerten und eine Lösung im Sinne und zum Schutz „einer wehrhaften Demokratie“ zu finden, hält man an einer Entscheidung fest, die längst nicht mehr mehrheitsfähig ist. So hat sich die SPD in eine Lage manövriert, in der sie weder glaubwürdig nachjustieren noch offensiv verteidigen kann.
Berliner-zeitung