Präsidentenwahl in Polen | Am Scheideweg
In ihrem Titel spitzt es die liberale Wochenzeitung »Polityka« zu: »Vorwärts oder Rückfall«. Sollte Rafał Trzaskowski, der Kandidat des Regierungslagers, am Wahlabend die Nase vorn haben, bekäme die von Donald Tusk geführte Koalition einen kräftigen Schub. Tatsächlich könnte sich so eine festgefahrene Situation auflösen. Und umgekehrt wäre ein Sieg von Karol Nawrocki, dem Kandidaten der nationalkonservativen Opposition, wohl der Beginn einer Entwicklung, an deren Ende in spätestens zweieinhalb Jahren die Rückkehr des von Jarosław Kaczyński geführten Lagers an die Macht vollzogen sein könnte. Am 1. Juni haben die Wählerinnen und Wähler das entscheidende Wort.
Die Angebote der beiden Kandidaten liegen auf dem Tisch, der Zuspruch hält sich ungefähr die Waage. Seit anderthalb Jahren gibt es in Polen eine Machtteilung, die im Grunde nach ihrer Aufhebung ruft. Polens direktgewählter Staatspräsident darf zwar nicht mitregieren und sitzt nicht am Kabinettstisch, aber er hat ein scharfes Schwert, das der anderen Seite das Leben schwer machen kann. Ihm kommt das Recht zu, jede Gesetzesentscheidung des Parlaments mit einem Veto aufheben zu können, wonach es dann einer Zweidrittelmehrheit im Parlament bedarf, um das jeweilige Gesetz durchzubringen. Stammen Regierungschef und Präsident aus einem politischen Lager, wird der Elan der Regierenden selten gebremst. Verhält es sich aber anders, ist der höchste Mann im Staate doch immer versucht, der Opposition kraft des Amtes beizuspringen.
Seit Herbst 2023 regiert ein ziemlich breites Bündnis, das von gemäßigt konservativen bis zu linksliberalen und sogar linksgerichteten Positionen reicht, im Kern aber von Ministerpräsident Donald Tusk liberal-konservativ geführt wird. Das Versprechen war, mit den Missständen der nationalkonservativen Regierungszeit seit 2015 aufzuräumen. Eine tiefgreifende Justizreform sollte kommen, die Frauenrechte sollten liberalisiert, Rechtsstaat und Gewaltenteilung wiederhergestellt werden. Für das oppositionelle Kaczyński-Lager bekam nun Präsident Andrzej Duda seine strategische Rolle, die er in diesem Sinne auch glänzend spielte.
Der Tusk-Regierung blieb folgende Wahl: einen Weg zu gehen, um eine Reihe von Präsidentenvetos zu provozieren, was den Vorteil gehabt hätte, viele Dinge vor der breiten Öffentlichkeit offensiv ausfechten zu können. Oder sie kann auf Zeit spielen und also auf die Präsidentschaftswahl 2025 setzen. Man entschied sich für Letzteres, hatte dafür auch etliche Gründe, denn die zugespitzte politische Stimmung zwischen den verfeindeten Lagern sollte nicht noch zusätzlich angeheizt werden. Man rechnete fest damit, dass die Gegenseite an Zuspruch verlieren wird, sobald die dort gewünschte scharfe Polarisierung der Gesellschaft abflacht und nachlässt.
Zum Erfolg des Tusk-Lagers über das Kaczyński-Lager bei den Parlamentswahlen im Herbst 2023 trugen zwei wichtige Wählergruppen bei: junge Menschen und Frauen. Ein wenig war damals noch von dem heftigen Proteststurm der Frauen zu spüren, der in den Herbsttagen 2020 gegen die unglaubliche Missachtung von Frauenrechten durch das ganze Land fegte und die nationalkonservative Regierung an die Wand drückte. Bezüglich der Frauenrechte ist seit dem Herbst 2023 wenig geändert worden, weniger als versprochen und erwartet, weil man vor dem Vetorecht des Präsidenten zurückschreckte und auf 2025 hoffte.
In der ersten Wahlrunde vor zwei Wochen erreichte Trzaskowski bei den Wählerinnen und Wählern bis 29 Jahre ein schwaches Ergebnis von lediglich 15 Prozent. Kaczyński funktionierte nicht mehr automatisch als nützliches Schreckgespenst für die gut gebildete und großstädtische Jugend. Selbst auf den Straßen Warschaus, einer liberalen Hochburg, ist im jungen Wahlvolk oft genug von dem Wunsch zu hören, dass es etwas anderes brauche als Tusk oder Kaczyński. Die Enttäuschung über das derzeitige Regierungslager ist nicht zu überhören und das Argument, dass ein Nawrocki-Sieg vor allem für den Kampf um die Frauenrechte ein tiefer Rückschlag wäre, zieht nur bedingt.
Wer sich entschieden für Frauen- und Minderheitenrechte, für emanzipative Entwicklung einsetzt, der hat am 1. Juni nur eine Wahl – die von Trzaskowski. Linke und linksgerichtete Angebote waren beim ersten Wahlgang zusammengerechnet auf elf Prozent der abgegebenen Stimmen gekommen. An sich ist das kein schlechter Wert, doch sind die Zerwürfnisse untereinander nicht zu übersehen. Und ein Sieg Trzaskowskis wäre eine gute Voraussetzung, wieder aus dem liberalen Fahrwasser zu gelangen, in das man in den Kaczyński-Jahren unweigerlich geraten ist. Denn die leidvolle Erfahrung zeigt: Eine gespaltene Linke spielt zuallererst der nationalkonservativen Rechten in die Hände.
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