Ralf Stegner: „Krieg ist furchtbar und ihn zu beenden, ist eine Tugend an sich“

Der SPD-Politiker Ralf Stegner hat das SPD-Friedensmanifest unterschrieben. Wie blickt er heute auf die heftigen Reaktionen? Ein Gespräch.
Ralf Stegner ist Bundestagsabgeordneter der SPD, er gehört zum linken Flügel der Partei. Sein friedenspolitisches Engagement bringt ihm auch immer wieder Kritik ein. Wir haben mit dem SPD-Mann über seine Überzeugungen gesprochen.
Berliner Zeitung: Ralf Stegner, die SPD hat sich in den letzten Jahren außenpolitisch neu orientiert. Der Flügel Willy Brandts, Friedenspolitik und eine gewisse Russland-Nähe gelten heute als umstritten. Sie selbst sind ja auch als Vertreter des linken Parteiflügels bekannt, haben kürzlich auch jenes Manifest unterzeichnet, in dem zu einer Revision der bisherigen Außenpolitik aufgerufen wird. Was hat Sie denn dazu bewogen?
Ralf Stegner: Zunächst einmal, Willy Brandt steht nicht für einen Flügel der SPD, sondern für die gesamte Sozialdemokratie. Er war unser Ehrenvorsitzender, der über viele Jahre die Partei geführt hat – und ich halte die Politik, die er gemacht hat, nach wie vor für richtig. Ich glaube allerdings nicht, dass es bei dem Gegenstand Ihrer Frage um die Ost-, Friedens- und Entspannungspolitik von Willy Brandt geht, sondern eher um die deutsch-russischen Beziehungen, zu Zeiten der Großen Koalition unter Angela Merkel – die übrigens wirklich keine Sozialdemokratin ist.
Was hat dieses aber nun mit dem Manifest zu tun, welches ja für Aufsehen sorgte, nicht nur in Ihrer Partei?
Das Manifest, welches wir verfasst haben, basiert auf der friedenspolitischen Orientierung der SPD, denn die SPD war immer Friedenspartei und damit auch Teil der Friedensbewegung, auch wenn die Zeiten sich natürlich geändert haben. Tatsache ist, dass es darum gehen muss, Kriege zu beenden, Kriege zu vermeiden und irgendwann auch gemeinsame Sicherheit herzustellen. Das ist schwierig heute, aufgrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, auch aufgrund der Tatsache, dass Putin offenkundig den Krieg fortsetzen will. Trotzdem wird das Ende nicht militärisch sein, sondern diplomatisch. Deshalb ist der Streit, um den es eigentlich geht, natürlich nicht der: „Bist Du für oder gegen Putin?“, sondern es geht darum, der Ukraine beizustehen, aber gleichzeitig mehr dafür zu tun, dass dieser Krieg endlich endet.
Sie erwähnten gerade die Friedensbewegung. Hat denn die Friedensbewegung die SPD verlassen oder die SPD die Friedensbewegung?
Ich bin immer noch der Meinung, dass wir Teil der Friedensbewegung sind und auch bleiben müssen. Die Friedensbewegung war immer heterogen, war nie eine parteipolitische Veranstaltung, sondern ein Sammelsurium. Es waren auch immer Parteien dabei, mit denen wir Sozialdemokraten nichts oder wenig gemeinsam hatten. Was sich aber verändert hat, ist die Tatsache, dass wir zu einer Art Militarisierung des Denkens und Handelns gekommen sind.
Wie meinen Sie das?
Wenn Sie sich umschauen, überall ist von massiver Aufrüstung die Rede, oder von der Lösung aller Probleme – von der Industriepolitik bis zur europäischen Gemeinsamkeit - durch Aufrüstung. Natürlich wird das meistens anders tituliert. Verteidigungs - und Bündnisfähigkeit brauchen wir ganz bestimmt, dazu muss Deutschland auch mehr tun, als bisher. Aber es ist ein Unterschied, ob man anstrebt, die Bundeswehr in einen besseren Zustand zu versetzen, als sie ist, oder ob man plant, vom 2-Prozent-Ziel des Bruttosozialprodukts für militärische Ausgaben, was ja vor kurzem noch als große Anstrengung galt, jetzt auf 5 Prozent zu springen. Das wären 225 Milliarden Euro pro Jahr! Über die sanierten Brücken können dann auch Panzer fahren.
Was Sie kritisch sehen?
Wer ernsthaft glaubt, dass bei solchen Summen für Rüstung noch Geld da ist, um die eigentlichen Weltprobleme zu lösen, die heißen: Armut, Umweltzerstörung, Bürgerkriege, oder Geld im Inland für soziale Zwecke einzusetzen, für Bildung, für Investitionen in die Zukunft, der täuscht sich. Deswegen wäre es vernünftig, nicht einzig und alleine auf Rüstung zu setzen, sondern Rüstungskontrolle zu betreiben, die nie in Zeiten von Frieden mit Freunden, sondern immer in Krisenzeiten mit Gegnern abgeschlossen wurde. Das ist an die Adresse all derer gerichtet, die behaupten, das passe nicht in die Zeit.
Bundesverteidigungsminister Pistorius, ebenfalls SPD, vertritt den Standpunkt, dass in der Ukraine unsere Freiheit verteidigt wird, während das sozialdemokratische Urgestein Egon Bahr einst postulierte: „In der internationalen Politik geht es nie um Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten!“. Welcher dieser beiden Anschauungen neigen Sie eher zu?
Inzwischen wird ja sogar in Interviews davon gesprochen, dass Deutsche wieder russische Soldaten töten können. Ich finde, dass ist eine Horror-Vorstellung. Mit Egon Bahr, der ein sehr kluger Mann war, habe ich mich oft unterhalten. Beim Thema Menschenrechte waren wir nicht immer ganz einer Meinung, weil ich schon glaube, dass alle Menschen auf der Welt das Anrecht haben, in Frieden und Freiheit zu leben und das die Menschenrechte natürlich für alle Menschen Gültigkeit haben müssen. Wir sind in einer Situation, in der es viele Kriege gibt und man ehrlicherweise feststellen muss, das bei Völker- und Menschenrecht regelmäßig mit zweierlei Maß gemessen wird. An der einen Stelle wird es angesprochen, an der anderen Stelle wird es ignoriert.
Könnten Sie bitte konkrete Beispiele nennen?
Wenn im Sudan Kriegsverbrechen geschehen, dann interessiert das keinen Menschen. Wir reden zu Recht über die Verletzung des Völkerrechts durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, wir haben aber ziemlich lange laut geschwiegen zu dem, was in Gaza passiert, man muss feststellen, dass es dort eben nicht nur um Israels Sicherheit geht, die für uns ja immer entscheidend sein muss. Es dient nicht dem Kampf gegen den Terrorismus, wenn da Kinder verhungern, wenn man Menschen Nahrung und Medikamente vorenthält, zivile Gebiete bombardiert oder kriminelle Siedlungsaktivitäten verfolgt, die mit dem Völkerrecht vollständig unvereinbar sind. Stattdessen trägt das dazu bei, dass neue Generationen im Hass gegeneinander aufwachsen. Diesbezüglich mit gleichem Maß zu messen, ist schon der Anspruch, den ich jedenfalls an eine demokratische Partei und auch an eine Demokratie habe.
Ihr Anspruch an die SPD ist es also, nicht nur die Partei zu sein, die die Friedensbewegung anführt, als eine Art Avantgarde, sondern auch die Partei, die das Völkerrecht vertritt in den internationalen Beziehungen?
Ja und das muss auch die Lehre aus unserer dunklen Geschichte des 20. Jahrhundert sein. Anders als andere Menschen glaube ich übrigens nicht – ich habe Geschichte studiert –, dass man von gestern ist, wenn man über Geschichte spricht. Geschichte wiederholt sich nicht, die historischen Abläufe sind auch nicht gleich. Aber die Vorstellung, früher gab es die friedliebende Sowjetunion, mit der eigentlich alles gesettled war, ist ein großer Irrtum. Willy Brandt hat die Entspannungspolitik begonnen, mit Walter Scheel zusammen, kurz nachdem die Panzer nach Prag eingerollt waren. Die Kuba-Krise der Sowjets hat nach Auffassung der Wissenschaft die größte Gefahr mit Blick auf einen Dritten Weltkrieg hervorgebracht, die es jemals gab. Vorher gab es den Einmarsch in Ungarn, den 17. Juni und ich vermute, dass die sowjetische Führung mehr Menschenleben auf dem Gewissen hat, als das für Putin gilt. Was ich damit aber zum Ausdruck bringen möchte, alleine an diesen Beispielen wird deutlich, dass die Behauptung, heute sei alles völlig anders, so dass die historischen Erfahrungen der Vergangenheit nicht zählen würden, falsch ist. Das gilt auch für die Einschätzung, dass wir unfassbar viel Geld in Rüstung investieren, mit dem Versprechen, dass die Waffen niemals eingesetzt werden. Das ist etwas, wogegen die Menschheitsgeschichte ebenfalls spricht.
Frieden schaffen mit mehr Waffen ist also nicht ihre Devise?
Wir setzen Milliarden und Abermilliarden in Rüstung ein und wir setzen erneut Milliarden ein, um die Folgen daraus in Aleppo, Gaza oder der Ukraine mühsam wieder zu beseitigen. Das erscheint mir wirklich nicht als der beste Gebrauch des menschlichen Verstandes. Daraus schließe ich, wenn wir eine positive Entwicklung wünschen, mag es schwierig sein aus den Umständen heraus, die wir momentan haben, zum Frieden zu kommen. Wir müssen aber alles dafür tun und nicht nur darüber reden.
Denken Sie denn, um noch einmal auf das Manifest zu sprechen zu kommen, Sie und die anderen Initiatoren und Unterzeichner haben dort den richtigen Ton getroffen bezüglich Ihrer gerade getätigten Aussagen?
Dieses Manifest ist überschrieben, was kaum jemand beachtet hat, mit den Worten „Verteidigungsfähigkeit, Rüstungskontrolle, Verständigung“, das sind die Überschriften, weshalb man unser Manifest nicht als ein „Russenpapier“ oder als ein pazifistisches Papier diskreditieren muss, wenn man des Lesens mächtig ist. Das Manifest ist allerdings kritisch gegenüber einer Haltung, die auf Wettrüsten setzt und davon ausgeht, man könne Putin militärisch an den Verhandlungstisch zwingen, was ja auch bisher nicht eingetroffen ist.
Was mich hierbei wirklich ärgert, ist, dass immer leichtfertig behauptet wird von der Gegenseite „Wir sind ja auch gegen Krieg, aber...“. Und dem „Aber“ folgt dann nichts. Was aber folgt, Tag für Tag, in den Kriegen unserer Zeit, sind Tod, Verletzung, Traumatisierung, Vergewaltigung, Kindesentführung und Zerstörung. Immer nur zu behaupten, der Putin will ja gar nicht reden oder ihn mit Hitler zu vergleichen, führt uns nicht weiter oder – wenn wir Kriegsteilnehmer werden – in den Abgrund.
Was wäre die Lösung?
Aus der Geschichte zu lernen, dass man Völker nicht mit ihren Regierungen gleichsetzen kann. Wir sind solidarisch mit Israel, aber nicht mit der Regierung Nethanjahu. Russland wird immer zur europäischen Geschichte und Geographie gehören, von daher haben wir im SPD-Parteiprogramm es so formuliert, es geht um Sicherheit gegen Russland, das ist gegenwärtig so, ich glaube aber, auf Dauer wird es nur gemeinsame Sicherheit mit Russland geben. Vielleicht könnten ja die Vereinten Nationen, wenn Länder wie China sich daran beteiligen würden, in der Ukraine, aber auch im Nahen Osten für die Einhaltung von Waffenstillstandsvereinbarungen sorgen und gewisse Sicherheitsgarantien übernehmen.
Herr Stegner, selbst Ihre politischen Gegner, ob innerparteilich oder außerhalb der Partei, erkennen an, dass Sie und Ihre Mitstreiter aus Überzeugung handeln, nicht aus strategischem Kalkül, denn mit Ihren Positionen können Sie in der heutigen SPD ja keinen Blumentopf gewinnen. Wie stellt sich Ihr Verhältnis zu Ihrer Partei aktuell dar? Gibt es auch Momente, in denen Sie zweifeln, dass Sie selbst zwar noch Sozialdemokrat sind, aber nicht mehr Mitglied einer sozialdemokratischen Partei?
Also zunächst einmal habe ich ja in dieser sozialdemokratischen Partei, in meiner SPD, mehr Führungserfahrung als die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen im Bundestag. Ich bin lange Jahre Mitglied in der schleswig-holsteinischen Landesregierung, Landtagsabgeordneter und Fraktionsvorsitzender sowie Landesvorsitzender und stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD gewesen und bin jetzt auch schon ein paar Jahre im Bundestag. Das heißt, ich kenne meine Partei sehr genau. Ich glaube überhaupt nicht, dass die Positionen, die ich vertrete, innerhalb der SPD Minderheiten-Positionen sind- Nicht nur in der SPD, nicht nur unter unserer Wählerschaft, sondern auch innerhalb der Bevölkerung.
Aber nicht in der Bundestagsgruppe!Ich glaube auch in der Bundestagsfraktion. Allerdings ist die Bereitschaft, dass zu übersehen oder sich mit anderen Dingen zu beschäftigen, wahrscheinlich stark ausgeprägt.
Weshalb die SPD Jahr für Jahr an Stimmen verliert?
Wenn wir auf diese 16 Prozent schauen, die wir bei der letzten Bundestagswahl erlangt haben, das schlechteste Ergebnis seit 138 Jahren, dann wird deutlich, dass die Partei nach einem solchen Debakel in Orientierungslosigkeit und Verwirrung ist, was ja nicht verwundern darf. Nach meiner Einschätzung ist ein Grund für dieses schlechte Wahlergebnis auch darauf zurückzuführen, dass wir eben Themen wie die Friedenspolitik oder die Migration den Populisten überlassen haben, nahezu kampflos. Hinzu kam, dass die Themen, für die wir Sozialdemokraten gewählt werden, bezahlbare Mieten, anständige Renten, gute Löhne, überhaupt gar keine Rolle gespielt haben.
Sind Ihnen aber nicht auch die Milieus verloren gegangen, schon seit langer Zeit, aus denen sich in früheren Zeiten, als die SPD noch als Volkspartei galt, ihre Wähler rekrutierten?
Sie haben insofern Recht, dass uns die Fähigkeit verloren gegangen ist, eine Sprache zu sprechen, die zwar nicht in den einfachen Inhalten mit den Populisten konkurriert, die aber verstanden wird – statt dieser Plastiksprache, wo man gar nicht weiß, was man will.
Könnten Sie ein Beispiel nennen für diese Plastiksprache?
Bleiben wir noch einmal beim Beispiel Krieg und Frieden. Wenn die Einen nur über Waffenlieferungen reden und die anderen sind Pro-Putin, dann fehlt eine SPD, die für Differenzierung ist und die sich nicht wegduckt, wenn der Wind von vorne kommt. Dann darf man sich nicht wundern, wenn Stimmen an AfD, BSW und Linke verloren gehen, die wir eigentlich gewinnen müssen. Die meisten Menschen auf der Welt möchten nicht mit 18 als Soldat sterben. Krieg ist furchtbar und ihn zu beenden, ist eine Tugend an sich. Mein Parteifreund und Kollege Rolf Mützenich, den ich sehr schätze, hat im Mai letzten Jahres erklärt, man solle den Krieg in der Ukraine einfrieren, um über zeitlich begrenzte Waffenstillstände zu verhandeln. Er hat nicht von Permafrost gesprochen, wurde aber aufs Heftigste beschimpft. Ich habe zu denen gehört, die ihn verteidigt haben, was eher wenige getan haben. Heute, im Juli 2025, gibt es den gleichen Vorschlag von Engländern, Deutschen und Franzosen und der Unterschied besteht darin, dass viele Menschen seitdem gestorben sind und die militärische Lage für die Ukraine sich deutlich verschlechtert hat. Was könnte man daraus folgern? Man hätte den Rolf Mützenich nicht beschimpfen sollen, sondern vielleicht eher auf ihn hören.
Liegt das auch an der Unfähigkeit, in Gesellschaft und Politik mit anderen Meinungen umzugehen?
Auch. Persönlich beschimpfe ich keine Kollegen als Kriegstreiber, auch wenn diese eine Politik für richtig halten, die ich als brandgefährlich betrachte. Umgekehrt werde ich aber schon als dumm, naiv, pazifistisch oder Putin-Freund diskreditiert.
Ihre Idee von einer Sozialdemokratie betrachten Sie also noch als zeitgemäß?
Ich bin gewiss nicht in der falschen Partei, bin auch nicht in die Minderheit geraten. In der Minderheit bin ich vielleicht bezüglich der Art und Weise wie ich Politik mache, das kann sein, der Stil ist auch ein anderer geworden. Viele erwecken den Eindruck, Politik heute... das ist hauptsächlich Instagram und TikTok, aber Politik ist doch schon mehr. Leidenschaft, Orientierungskraft, historisches Wissen, Fleiß und Professionalität – das alles gehört dazu.
Sie scheuen ja auch keine Risiken, am 3. Oktober vergangenen Jahres traten Sie als Redner bei der Friedensdemo an der Siegessäule auf und wurden ausgebuht. Ein minutenlanges Pfeifkonzert erklang, nachdem Sie das Wort ergriffen hatten.
Was die Demonstration angeht: Ich bin damals sehr gescholten worden. Das sei eine Wagenknecht-Veranstaltung, hieß es. Ein Kollege aus der Bundestagsfraktion hatte eine Gegendemonstration organisiert, mit ungefähr 30-40 Teilnehmern, während auf der Kundgebung, auf der ich sprach, etwa 27.000 Menschen waren. Gewerkschaftler, Kirchenleute, Sozialdemokraten und vielleicht 2000 Wagenknecht-Fans. Die standen vorne, mit ihren Transparenten, und haben gepfiffen, als ich von Putins Angriffskrieg und gegen Antisemitismus sprach, aber die vielen anderen, die nicht gepfiffen haben, bei denen müssen wir als SPD doch bleiben. Ich hatte an diesem Tag Schwierigkeiten, von der Demo wegzukommen. Warum? Weil mich ständig Leute angesprochen haben, die ein Selfie wollten, Einladungen aussprachen und Zustimmung äußerten. Deshalb wiederhole ich hier noch einmal, wenn die SPD nicht mehr Teil der Friedensbewegung wäre, dann wäre das nicht nur von der Sache falsch, sondern dann würde uns das Gleiche passieren, was wir mit den Hartz-VI-Reformen schon einmal hatten, das wir einen erheblichen Teil unserer Partei, nicht nur unserer Wähler, verlieren.
Kommen wir noch einmal auf die Außenpolitik zu sprechen. Was läuft da falsch?
Außenpolitik ist etwas, was zwar mit einem klaren Wertekompass betrieben werden muss, aber was in Anerkennung dessen geschehen muss, dass Klugheit heißt, mit denen zurechtzukommen, deren Werte man nicht teilt. Zu glauben, man könne mit einer moralischen Position Außenpolitik betreiben, nach dem Motto: „Wir Deutschen vertreten diese Moral“, und dann erstaunt zu sein, dass ein Großteil der Welt ganz andere moralische Vorstellungen besitzt... und das Milliardenvölker, aber auch andere, nicht ständig belehrt werden möchten... Das alles führt ins Nichts und in die Bedeutungslosigkeit. Egon Bahr hat einmal gesagt, wenn wir nur mit denen reden, die unsere Werte teilen, dann sind wir mit Island und Norwegen alleine. Das klingt natürlich ein wenig übertrieben, aber in der Tendenz stimmt es schon. Klugheit ist, sich in die andere Haltung hineinversetzen zu können, gerade wenn die andere Seite andere Vorstellungen vertritt. Deutschland sollte mit gutem Beispiel vorangehen und das Weltgeschehen positiv beeinflussen. Wenn wir dann aber aufrüsten, bis an die Zähne, und so tun, als seien wir komplett wehrlos und der russische Einmarsch steht unmittelbar bevor, dann aber gleichzeitig humanitäre Hilfe kürzen, nachdem die Trump-Administration fast alles ruiniert hat, was es da gab, sorgen wir dafür, dass die Probleme nicht nur nicht gelöst werden, sondern sich verschärfen.
In wieweit ist Ihr politisches Engagement geprägt von Ihrem Privatleben? Sie haben drei Söhne. Liegt die Motivation Ihres politischen Handelns eventuell auch darin begründet, dass Sie sich um Ihre Kinder sorgen? Und eine zweite Frage dazu: Inwiefern hat es Sie geerdet, dass Sie in Schleswig-Holstein Ihre politische Laufbahn begonnen haben, im Verhältnis zur Blase von Berlin, in der viele Politiker sich bewegen?
Ich empfinde es jeden Tag als großes Glück, dass ich einer Generation angehöre, die in Wohlstand und Frieden hat aufwachsen dürfen. Denn das ist die erste Generation in Deutschland, für die das gilt, was häufig vergessen wird. Hierbei handelt es sich um die historische Ausnahme, nicht um den Regelfall. Daraus folgt für mich die Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass das für unsere Kinder und Enkelkinder auch gilt. Heute kommt dazu, dass wir ihnen einen bewohnbaren Planeten hinterlassen müssen. Ich bin seit wenigen Wochen auch Großvater, insofern sind das Umstände, die mich natürlich sehr stark bewegen. Ich bin damals in die SPD eingetreten, um die Welt besser zu machen, wie die meisten Menschen, die in die SPD eintreten. Wir sollten als Partei vielleicht wieder mehr dafür sorgen, dass man uns das wieder mehr anmerkt, weil es ja auch heute noch gilt. Was die Erdung angeht: Ich hatte ja das große Glück in meinem Leben, auf der einen Seite viel von der Welt sehen zu dürfen und andererseits einen Großteil meines politischen Lebens in Schleswig-Holstein gestalten zu dürfen, in diesem kleinen Land, zwischen zwei Meeren, wo man sich kennt, wo die Menschen ziemlich gerade und direkt sind. Hier hatte ich Erfolge und Niederlagen und habe gelernt, dass der Sinn in einem politischen Engagement darin besteht, das Leben der Menschen besser zu machen. Diese Einstellung geht manchmal verloren, wenn man in Berlin den einen oder anderen sieht, der vor Wichtigkeit kaum laufen kann.
Auch in Ihrer Partei wahrscheinlich?Das ist wahrscheinlich parteiübergreifend.
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Berliner-zeitung