Solidarisches Flüchtlingsmodell | Mimmo Lucano: Riace soll seinen Bürgermeister verlieren
Domenico »Mimmo« Lucano ist einem deutschen Publikum vielleicht vor allem durch Wim Wenders’ Film »Il Volo« bekannt. Er erzählt vom kalabrischen Bergdorf Riace, das durch die Aufnahme kurdischer Geflüchteter Ende der 90er Jahre zum Vorbild für ein solidarisches Modell der Migration wurde: Italienische Kooperativen bringen asylsuchende Geflüchtete in verlassenen Häusern unter und erhalten dafür ein Tagegeld von der Regierung. So werden die seit dem 19. Jahrhundert sterbenden Dörfer mit neuen Bewohner*innen und nötiger Infrastruktur wiederbelebt.
Am Dienstag wurde der 67-jährige Lucano durch das Kassationsgericht in der kalabrischen Stadt Locri seines Amtes enthoben. Anlass ist eine rechtskräftige Verurteilung zu 18 Monaten Haft mit Bewährung – das Ergebnis des sogenannten Xenia-Verfahrens, in dem es um die solidarischen Aufnahmeprojekte in Riace ging.
Ursprünglich war Lucano in dem Prozess mit schweren Vorwürfen konfrontiert; wegen angeblichen Amtsmissbrauchs, Veruntreuung und Förderung irregulärer Einwanderung drohte dem Bürgermeister eine hohe Haftstrafe. Die meisten Anklagepunkte gegen Lucano wurden jedoch im Berufungsprozess aufgehoben, übrig blieb lediglich eine Verurteilung wegen Fälschung eines öffentlichen Dokuments. Dieses Urteil hat das Kassationsgericht nun bestätigt.
Das Xenia-Verfahren war von Anfang an politisch aufgeladen. Ermittlungen begannen bereits 2017, richtig Fahrt nahm der Fall aber 2018 unter Innenminister Matteo Salvini auf. Der Chef der rechtsradikalen Lega hatte Lucano öffentlich zur Zielscheibe erklärt, ließ ihn unter Hausarrest stellen und aus Riace verbannen. Salvini nannte Lucano einen »Gesetzesbrecher«, obwohl dieser damals für sein Engagement international ausgezeichnet wurde – etwa vom US-Magazin »Fortune«, das ihn zu den 50 einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt zählte. Dass Lucanos Strafverfolgung mitten in Salvinis Kampagne gegen Seenotrettungsorganisationen stattfand, gilt nicht nur Linken in Italien bis heute als gezielte politische Repression.
Der Verlust des Bürgermeisteramtes droht Lucano wegen des »Legge Severino« – ein Gesetz von 2012, das die Amtsenthebung gewählter Vertreter*innen bei rechtskräftiger Verurteilung vorsieht, auch bei Bewährungsstrafen. Lucanos Verteidigung argumentiert allerdings, dass die Regelung nur gelten dürfe, wenn die Tat mit Machtmissbrauch oder der Verletzung amtlicher Pflichten einherging. Beides treffe im Fall des Bürgermeisters nicht zu: Kein Gericht habe einen solchen Zusammenhang festgestellt – im Gegenteil: Laut Verteidigung wurde die sogenannte Nebenstrafe eines Amtsverbots vom Kassationsgericht sogar ausdrücklich aufgehoben, berichtet die sozialistische Zeitung »Il Manifesto«.
Auch der Gemeinderat von Riace hatte sich zuvor gegen die Umsetzung der Amtsenthebung ausgesprochen. Die Präfektur von Reggio Calabria reichte dennoch Klage ein. Laut Urteil wird die Entscheidung in 20 Tagen rechtskräftig. Lucano könnte aber auch in eine letzte Berufung vor dem Kassationsgericht gehen. Riaces Noch-Bürgermeister kündigte am Montag an, genau das zu tun. Gegenüber »Il Manifesto« kritisierte er das Urteil als innerhalb der Regierung »abgestimmt« und sagte: »Ich werde Berufung einlegen – und bis dahin Bürgermeister bleiben. Das erlaubt mir das Gesetz. Und in der Sache haben wir alle Argumente auf unserer Seite.«
»Ich wäre weniger betrübt, hätte man mir den Sitz im EU-Parlament genommen – aber nicht Riace.«
Mimmo Lucano Bürgermeister von Riace
Lucano sitzt seit Juni 2024 auch im Europäischen Parlament. Bei der Wahl kandidierte er erfolgreich für die Liste Alleanza Verdi Sinistra – gemeinsam mit der Antifaschistin Ilaria Salis, die zuvor im sogenannten Budapest-Komplex monatelang in ungarischer Haft saß. Dass Lucano überhaupt beide Ämter gleichzeitig innehat, sorgte in Italien für Diskussionen. Seine Prioritäten machte er gegenüber »Il Manifesto« allerdings klar: »Ich wäre weniger betrübt, hätte man mir den Sitz im EU-Parlament genommen – aber nicht Riace.«
Rückendeckung erhält Lucano aus dem linken Spektrum. Nicola Fratoianni und Angelo Bonelli von der Linksallianz sprachen von einem politisch motivierten Urteil, berichtet die Zeitung »Tag 24«. Es sei ein Skandal, dass ausgerechnet jemand wie Lucano abgesetzt werde, während viele verurteilte Politiker*innen weiterhin in Ämtern bleiben könnten. Vertreter der Zentrumspartei Partito Democratico äußerten sich vorsichtiger: Zwar sei die Entscheidung formal zu respektieren, hinterlasse aber einen »bitteren Nachgeschmack«. Lucano stehe für eine international anerkannte praktische und menschliche Form der Geflüchtetenaufnahme – und man hoffe, ihn bald wieder offiziell im Amt zu sehen.
Lucano selbst blickt nach vorn: »Mindestens zwei Jahre werde ich noch Bürgermeister sein, und das werden zwei sehr intensive Jahre.« Kommende Woche startet in Riace ein antirassistisches Fußballturnier. Vom 20. bis 27. Juli ist eine internationale Aktionswoche zur Unterstützung palästinensischer Protestbewegungen gegen den Gaza-Krieg geplant. »Dieses ungerechte und überzogene Urteil wird uns nicht den Mund verbieten«, so Lucano gegenüber »Il Manifesto«.
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