Von humanitärer Weltmacht zum Abwanderungsland: Wie Schweden seine Migrationspolitik umkrempelt

Die skandinavischen Länder haben den Ruf, zu den entwickeltsten Gesellschaften der Welt zu gehören. Ihr Erfolgsmodell beruht auf der Verbindung marktwirtschaftlichen Wachstums und großzügiger Wohlfahrtsstaatlichkeit. Wohl aus dieser Ausgangslage – die etwa im Falle Norwegens durch einen üppigen Rohstoffreichtum begünstigt wird – erwuchs ihr humanistischer Anspruch. So verstand sich etwa Schweden noch bis vor kurzem als „humanitäre Weltmacht“.
Der schwedische Weg geriet seit der Flüchtlingskrise 2015/16 unter großen Druck. Nach Berechnungen des schwedischen Migrationsamts war das Land 2015 mit etwa 163.000 Erstanträgen auf Asyl das größte Pro-Kopf-Aufnahmeland Europas. Mit etwa zehn Millionen Einwohnern stellte der Flüchtlingsansturm das Land, das von einer von der Linken tolerierten Minderheitsregierung aus Sozialdemokraten und Grünen regiert wurde, auf eine schwere Probe.
Seit 2020 bewegen sich die Asylanträge um etwa 10.000 im JahrIn einem Interview beschreibt die Leiterin des Konrad-Adenauer-Stiftung-Regionalprogramms Nordische Länder, Gabriele Baumann, die Herausforderungen 2015 so: „Der Knackpunkt hinsichtlich des Politikwechsels war insbesondere die Integration. Denn es wurde offensichtlich, dass die Integration in den Arbeitsmarkt nicht gut gelang und dass dies den Wohlfahrtsstaat belastet.“ Bürger hätten Einschnitte am eigenen Leib erfahren, die durch die stark zugenommene Asylmigration hervorgerufen worden seien.
Wie Baumann weiter erklärt, sei Kritik an der Migrationspolitik zu diesem Zeitpunkt das Alleinstellungsmerkmal der rechtspopulistischen Schwedendemokraten gewesen. „Rassistische Argumente standen nicht im Vordergrund“, sagt sie. Vielmehr sei es um die Bedrohung des wohlfahrtsstaatlichen Modells durch zu viel Zuwanderung gegangen.
Der konservative jetzige Migrationsminister Johan Forssell stellt im Gespräch mit der Berliner Zeitung seine Sicht auf diese Zeit so dar: „Schlussendlich verstanden die Sozialdemokraten und die Grünen: Entweder ändern wir unsere Politik oder wir verlieren unser Amt. Ganz einfach.“ Da diese Befürchtungen in der schwedischen Bevölkerung breiten Zuspruch erfuhren, passte die rot-grüne Regierung ihre Politik an, zunächst durch temporäre Gesetze, die ab 2021 fest installiert wurden.
So wurden etwa Grenzkontrollen wieder eingeführt und die Identität von Einreisenden geprüft. Flüchtlinge bekamen nur noch befristete Aufenthalte, die Familienzusammenführung wurde erschwert und humanitäre Aufenthalte außerhalb des Asylrechts stark eingeschränkt. Schon 2016 sank die Zahl der Asylerstanträge dramatisch – auf etwa 29.000. Seit 2020 bewegen sie sich bei etwa 10.000 pro Jahr. Zum Vergleich: Deutschland, das etwa achtmal so viele Einwohner hat, verzeichnete seit Ende der Corona-Pandemie 2022 jährlich mehr als 200.000 Asylerstanträge.
Migration und innere Sicherheit machen 60 Prozent des Koalitionsvertrags ausTrotz dieser vergleichsweise restriktiven Maßnahmen waren im Wahlkampf 2022 die Themen Migration und Integration weiterhin bestimmend. Die Schwedendemokraten erhielten etwa 20 Prozent der Stimmen. Die bürgerliche Moderate Sammlungspartei, die Liberalen und die Christdemokraten bildeten eine von den Schwedendemokraten tolerierte Minderheitsregierung, was als Tidö-Abkommen bekannt wurde. Damit beendeten die Mitte-Rechts-Parteien ihre jahrelange Politik der Nichtzusammenarbeit mit den Schwedendemokraten, rissen die schwedische Brandmauer nieder.
Die Schwedendemokraten entstanden in den 1980er-Jahren aus einer rechtsextremen Organisation, werden aber heute als gemäßigtere rechtspopulistische Partei wahrgenommen, insbesondere im Vergleich mit der deutschen AfD. Sie sind Teil der Parteienfamilie Europäische Konservative und Reformer, zu der auch die italienische Regierungspartei Fratelli d’Italia und die polnische Partei PiS gehören.
Der Einfluss der Schwedendemokraten macht sich insbesondere in den Regierungsvorhaben um Migration, Integration und innere Sicherheit bemerkbar. Migrationsminister Forssell (Moderate) zufolge machten diese Themengebiete 60 Prozent ihres Koalitionsvertrages aus. Eine Vielzahl von Maßnahmen, die etwa die Erlangung der Staatsbürgerschaft schwieriger machen, die den Aufenthalt an strengere Vorgaben knüpfen oder Abschiebungen vereinfachen, durchlaufen derzeit den Gesetzgebungsprozess.
Offenbar mit Erfolg: 2024 konnte die Vorgängerin Johan Forssells, Maria Malmer Stenergard, verkünden, dass aus Schweden das erste Mal seit vielen Jahren mehr Menschen aus- als einwanderten. Wie Forssell im Gespräch betont, ist das Ziel der Regierung jedoch, zwischen Asyl- und Fachkräftemigration zu trennen. Asylmigration soll auf das Minimum beschränkt werden und gleichzeitig will Schweden attraktiver für hoch qualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland werden.
Auf der anderen Seite hat Schweden weiterhin mit massiven Problemen bei der inneren Sicherheit zu kämpfen. Auseinandersetzungen zwischen migrantischen Gangs in sozial benachteiligten Stadtteilen, die mit Schusswaffen oder sogar Sprengstoffanschlägen ausgeführt werden, bestimmen weiterhin das Sicherheitsempfinden vieler Bürger.
Schwedendemokraten weiter stabil bei 20 ProzentAuch wenn die Schwedendemokraten sich weniger radikal geben als die AfD und das Prinzip Minderheitsregierung sich in den vergangenen Jahren als relativ tragfähig erwiesen hat, bleibt die Frage des politischen Erfolgs. Schwedens Nachbarland Dänemark ist dafür bekannt, dass Mitte-Links-Regierungen mit einer restriktiven Migrationspolitik die dortigen Rechtspopulisten in die relative Bedeutungslosigkeit getrieben haben.
Nicht so in Schweden: Laut aktuellen Umfragen stehen die Rechtspopulisten stabil bei etwa 20 Prozent, könnten bei der Wahl im kommenden Jahr sogar stärkste Kraft werden. KAS-Leiterin Baumann sagt: „Noch heute schreiben die Wähler vor allem ihnen die größte Kompetenz in Sachen Migrationspolitik zu.“
Die politische Lage in Schweden erinnert an Deutschland, wo die schwarz-rote Regierung unter Friedrich Merz versucht, mit einer restriktiveren Migrationspolitik den Zulauf zur AfD einzudämmen – Ausgang offen. Migrationsminister Johan Forssell gibt sich jedoch optimistisch. Er findet, es sei wichtig, dass die Wähler das Gefühl hätten, die Migration sei unter Kontrolle. Denn: „Nachhaltiges Vertrauen entsteht nur, wenn man die Probleme löst, mit denen die Menschen tagtäglich zu tun haben.“
Berliner-zeitung