Der vergessene Kampf - DDR-Dopingopfer Andreas Wornowski

Das Gefühl, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht, hatte Andreas Wornowski spätestens 1993, vier Jahre nach der politischen Wende in der DDR: "Ein Arzt im Bundeswehrkrankenhaus sprach mich direkt auf leistungssteigernde Medikamente an. Meine Antwort war ein Achselzucken. Ich habe diesen Gedanken nicht zugelassen, nie weitergedacht, ignoriert."
Heute leidet der heute 54-jährige ehemalige Boxer seit über 40 Jahren an massiven gesundheitlichen Folgen, hat Tag und Nacht Schmerzen - ausgehend von seiner verkrüppelten linken Hand, seiner Schlaghand. Dazu kommen schwere Depressionen. Dem einstigen DDR-Leistungssportler wird klar: Das sind die Folgen des DDR-Zwangsdopings. Er beginnt damit, seine Vergangenheit aufzuarbeiten.
Mit dreizehn an die DDR-KaderschmiedeWornowskis Weg in den Spitzensport begann mit elf Jahren vergleichsweise spät. Mit Talent, Disziplin und Trainingsfleiß wurde er bereits ein Jahr später Bezirksmeister seiner Altersklasse in Magdeburg. Mit dreizehn kam er an die Kinder- und Jugendsportschule Berlin, ein Elite-Sportinternat, in dem die DDR ihre künftigen Medaillengewinner formte. Wornowski wohnte bis zur Volljährigkeit in dem Internat, nur alle vier Wochen durfte er nach Hause fahren.

Seine Mutter, Krankenschwester von Beruf, war zunächst strikt gegen das Boxen: Die Sportart war ihr zu brutal. Doch der Vater und der Rat des Kreises seiner Heimatstadt überredeten sie. Rückblickend versteht Wornowski die Sorge der Mutter: Boxen bedeute die Einwilligung in Körperverletzung. Wenn die Schlaghärte dann auch noch mit Medikamenten gesteigert werde, münde es in ein regelrechtes "Schlachten mit Körpermaterial" - so formuliert es Wornowski -, mit "Dampfhammer"-Schlägen auf den Kopf.
Boxen in der Junioren-Nationalmannschaft der DDRDie Zeit, die er von nun an erlebt, beschreibt er als "eine Art Extremtrainingslager", in dem mittels leistungssteigernder, schmerzstillender und enthemmender Mittel und unter massivem psychischem und physischem Leistungsdruck alles aus den Kindern und Jugendlichen herausgeholt werden sollte. Wer dem nicht standhielt oder unbequeme Fragen zu Pillen oder Spritzen stellte, musste gehen: In der 8. Klasse waren es noch 21 Jugendliche, in der 10. nur noch vier.
Wornowski feierte rasch Erfolge und schaffte es in die Junioren-Nationalmannschaft der DDR.
Der Triumph - und sein PreisAb 1986 bekam Wornowski regelmäßig verschiedene Medikamente, blaue und schwarz-rote Kapseln, die offiziell als "Vitamine und immunsteigernde Mittel" bezeichnet wurden. Heute ist Wornowski davon überzeugt, dass es sich dabei um das Anabolikum Oral-Turanibol, das anabole Steroid Mestanolon, die steroide Testsubstanz 646 sowie Psychopharmaka zur Aggressionssteigerung handelte.
Diese wurden nachweislich bei experimentellen Trainingsbehandlungen unter Leitung von Hans Gürtler an Wornowskis gesamte Trainingsgruppe verabreicht. Gürtler war ein führender DDR-Sportmediziner und Mitverantwortlicher des staatlichen Dopingprogramms, das ab 1974 unter der Bezeichnung "Staatsplanthema 14.25" lief.
Wornowskis sportliche Glanzzeit begann: Mit 16 wurde er DDR-Jugendmeister im Halbschwergewicht und gewann internationale Turniere. Er wurde Repräsentant der DDR, ein "Diplomat im Trainingsanzug", wie es damals hieß. Ein Stasi-Vermerk aus jener Zeit bescheinigt Wornowski: "Er bestimmt das Leistungsniveau der DDR in seiner Alters - und Gewichtsklasse." Die Entscheidung in seinen Kämpfen fiel oft bereits in der ersten Runde durch K.o. "Über ein Jahr lang blieb keiner mehr stehen", sagt der einstige Boxer.

Doch neben dem Ruhm wuchs der körperliche Verfall. Wornowskis Schmerzen wurden größer, die Verletzungen häuften sich: zertrümmertes Nasenbein, zusammengenähte Augenlider , ausgeschlagene Zähne.
Training bei 90 Grad in der SaunaDazu kam das gnadenlose Training mit bis zu vier Einheiten je zwei Stunden pro Tag. Unter normalen Umständen liegt das jenseits der Belastungsgrenze. "Ich konnte eigentlich nicht mehr, aber ich machte trotzdem weiter. Heute würde ich sagen: brutalste Bedingungen", erinnert sich Wornowski.
Schmerzen drückte er weg - "man war ja wer", sagt er. Bis zu 20 Schmerztabletten pro Tag waren für ihn keine Seltenheit. Um das Gewicht vor einem Wettkampf zu verringern, musste er öfter sein Pratzen-Training - Schläge mit dem Boxhandschuh auf spezielle Polster, die der Trainer hält - in einer 90 Grad heißen Sauna absolvieren.
An der Deutschen Hochschule für Körperkultur und Sport in Leipzig trieb man ihn auf dem Laufband sogar bis zur Ohnmacht, um seine Leistungsgrenze zu testen. Nur ein Gurt verhinderte einen Sturz.
Politisch gewolltes Karriere-EndeWornowskis sportliche Karriere endete abrupt mit 19 Jahren, im Frühjahr 1989, mehr als ein halbes Jahr vor dem Mauerfall. Offiziell aufgrund seiner gesundheitlichen Probleme, vor allem wegen seines Augenleidens. Wornowski glaubt einen anderen Grund zu kennen: Er hatte sich geweigert, Mitglied der DDR-Staatspartei SED zu werden.
Was ihm blieb, war ein Beruf, den er nie erlernt hatte: Kfz-Mechaniker. Wornowski hatte nie eine Autowerkstatt von innen gesehen, die Prüfungsarbeit hatte ihm die Stasi fertig vorgelegt. Offiziell galt er wie alle Leistungssportler der DDR als Amateur, denn offiziell gab es in dem sozialistischen Staat keinen Profisport.
Hilfegesetze für Dopingopfer sind ausgelaufenNach der deutschen Wiedervereinigung brachten erst ab 1997 einige Gerichtsprozesse den vollen Umfang des DDR-Staatsdopings ans Licht. Als Reaktion darauf wurden 2002 und später mehrere Hilfegesetze für Dopingopfer verabschiedet. Durch diese erhielten rund 2000 Betroffene, darunter auch Wornowski, Einmalzahlungen von jeweils 10.500 Euro.

Diese Gesetze sind inzwischen ausgelaufen. Die aktuellen Anerkennungsverfahren sind kompliziert und mit hohen Hürden verbunden. Der Dopingopfer-Hilfeverein geht von rund 15.000 Betroffenen aus.
Krankenakte verschwundenWornowski kämpft wegen seiner gesundheitlichen Schäden um eine monatliche Rente. Sein Antrag wurde abgelehnt, der Nachweis der Schädigung durch DDR-Doping ist schwierig. Seine komplette Krankenakte ist verschwunden. Er hat Klage eingereicht.
"Das ist diese Riesentragik. Das tatsächliche Problem der Betroffenen ist, dass ihre Gesundheitsunterlagen weg sind und dass sie in einer Not stecken, die auch mit der gesetzlichen Novellierung [Änderung oder Überarbeitung eines bestehenden Gesetzes durch ein Neues - Anm. d. Red.] wahrscheinlich nicht behoben wird", erläutert Wornowskis Anwalt Ingo Klee.
Gesetzesänderung weckt HoffnungZudem komme es noch immer vor, dass ehemalige Funktionäre und Ärzte des DDR-Sportsystems in Schlüsselpositionen sitzen, gibt Michael Lehner, Vorsitzender des Dopingopfer-Hilfevereins, zu bedenken. "Dass dann zumindest der Glaube an Objektivität sich nicht entwickelt, muss jedem klar sein."
Im Falle Wornowskis schrieb der Leiter des versorgungsärztlichen Dienstes des Bundeslandes Brandenburg die ablehnende ärztliche Stellungnahme. Der Gutachter war Ende der 1980er Jahre im sportmedizinischen Dienst der DDR tätig. Die Institution war für die praktische Umsetzung des Zwangsdopings verantwortlich. Der besagte Mediziner bestreitet jede Beteiligung an Dopingpraktiken.
Lehner setzt auf eine neue Gesetzesregelung, mit der die Beweislast umgekehrt werden soll: Bei bestimmten typischen Krankheiten soll Doping als Ursache angenommen werden. Das sei jedoch keineswegs ein Automatismus, warnt Wornowskis Anwalt Klee: Die Versorgungsämter könnten die Folgeschäden dennoch anzweifeln, etwa mit Verweis auf eine familiäre Vorbelastung.
"Es sind nicht nur die Beweisnot, die gesundheitlichen Probleme, die finanziellen Schwierigkeiten - es ist widerlich und kaum noch auszuhalten", sagt Wornowski. Heute lebt er mit seiner Frau zurückgezogen in einem Haus im Wald. Einige seiner ehemaligen Trainingskameraden sind bereits tot. "Und bei jeder Beerdigung haben alle den gleichen Gedanken: Wer weiß, was die uns damals alles gegeben haben?"
dw