Die Teilnehmer der Vendée Globe kehren verändert an Land zurück – was Hochseesegler mit Astronauten verbindet


An der Vendée Globe sind die Seglerinnen und Segler zuweilen näher an den Astronauten als an ihren Mitmenschen an Land: Während die Internationale Raumstation ISS die Erde in rund 230 Seemeilen Höhe umkreist, befinden sich die Skipper der Nonstop-Weltumsegelung zeitweise an einem Ort, der noch weit abgelegener ist: am Punkt Nemo – dem am weitesten vom Festland entfernten Punkt im Ozean zwischen Neuseeland und Chile. Die nächste Küste liegt dann 1400 Seemeilen entfernt.
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Was Astronauten und Hochseesegler verbindet, ist das Leben in lebensfeindlicher Umgebung – über Monate hinweg. Die einen durchqueren das All, die anderen trotzen dem Chaos des Südpolarmeers, den Stürmen, den haushohen Brechern. Und der Isolation. Doch während Astronauten jahrelang vorbereitet, überwacht und begleitet werden – medizinisch, psychologisch und technisch –, begeben sich viele Segler mit vergleichsweise wenig physischer Vorbereitung auf eine extreme Fahrt rund um den Globus. Sie absolvieren einen Wettkampf am Rande der Belastbarkeit – und jenseits dessen, was der Körper ohne langfristige Folgen wegstecken kann.
Wie wenig im Hochseesegeln selbst auf höchstem Niveau Hilfsmittel genutzt werden, die in der Medizin und im Sport allgemein zur Verfügung stehen, wurde der Biomechanikerin und Offshore-Seglerin Bérénice Charrez bewusst, als sie 2023 am Ocean Race teilnahm. Sie stellte fest, dass an der Vendée Globe die Boote zwar ständig optimiert, der Mensch aber völlig vergessen wurde. Charrez konnte die Klassenvereinigung Imoca sowie die Universität Caen für eine wissenschaftliche Studie über die physischen und psychischen Folgen einer Einhand-Weltumsegelung gewinnen. Nun liegen die ersten Ergebnisse vor.
Die Offshore-Segler wurden regelrecht vermessenAm Imoca Human Performance Project nahmen 15 Teilnehmer der letzten Vendée Globe teil. Diese wurden vor, während und nach der Regatta untersucht. Gewicht, Grösse, Körperzusammensetzung, aber auch der Umfang der Oberschenkel, Waden und Arme wurden vermessen. Die Skipper absolvierten VO2-Max-Tests zur Bewertung ihres Kalorienverbrauchs bei Anstrengung und liessen Schweissanalysen und Fitnessanalysen anfertigen. Ausserdem wurden die Griffkraft der Hände und die Sprunghöhe gemessen – beides wichtige Indikatoren für die Muskelkraft.
Während des Rennens war jeder Skipper mit einer Uhr ausgestattet, die kontinuierlich unterschiedlichste biometrische Daten aufzeichnete: Herzfrequenz, Sauerstoffgehalt im Blut, Blutdruck, Hauttemperatur und dergleichen mehr. Ein von der Universität Caen entwickelter Umweltsensor, der im Cockpit der Boote installiert war, zeichnete die Temperatur, Luftfeuchtigkeit und den Lärm auf, damit der psychische Zustand der Segler mit den Bedingungen, unter denen sie segelten, in Relation gesetzt werden konnte.
Die Genfer Wissenschafterin ging von der Hauptthese aus, dass Offshore-Seglerinnen und -Segler, die lange auf hoher See bleiben, eher Astronauten als klassischen Sportlern ähneln. Ein erstes überraschendes Ergebnis scheint ihre Annahme zu bestätigen: Fast alle Skipperinnen und Skipper haben, wie die Astronauten, an Körpergrösse verloren, im Durchschnitt schrumpften sie einen bis anderthalb Zentimeter. Die Ursache ist noch unklar, Charrez vermutet eine Kompression der Wirbelsäule aufgrund der beengten Haltung im Cockpit und des damit einhergehenden Verlusts an Beweglichkeit.
Eine weitere Überraschung: Im Durchschnitt gab es bei den Skippern der Vendée Globe keinen signifikanten Gewichtsverlust. Abgesehen von einigen wenigen Extremfällen (ein Skipper verlor acht Kilogramm, also zehn Prozent seines Körpergewichts), scheinen die Segler und ihre Teams an Land die richtige Ernährungsbalance gefunden zu haben, damit die Teilnehmenden die drei Monate auf See überstehen. Eingebüsst haben die Segler und Seglerinnen allerdings ihren Gleichgewichtssinn. Festgestellt hat Charrez bei den Athletinnen und Athleten zudem einen Verlust an Muskelmasse von bis zu zehn Prozent.
Hat Justine Mettraux nach 76 Tagen auf hoher See tatsächlich an Körpergrösse eingebüsst? Als beste Frau des Rennens belegte die Genferin an der Vendée Globe den achten Platz – doch ihr Testergebnis nach der Rückkehr wirft Fragen auf. Im Gespräch relativierte Mettraux den Befund: «In meinem Fall bin ich mir nicht sicher, ob die Messung sehr genau war. Ich glaube nicht, dass ich meine Fersen richtig an die Wand gestellt habe.» Ihrer Einschätzung nach handelte es sich eher um einen temporären Grössenverlust. «Es gab auch Leute, die nach dem Rennen gewachsen sind», sagte sie.
Laut Mettraux würden die Studienergebnisse deutlich machen, worauf Profiseglerinnen und -segler künftig achten müssten. «Ich habe das Rennen gut überstanden. Ich habe nicht viel Gewicht verloren, nur Muskelmasse – das ist normal, wenn man so lange auf See ist. Ich hatte keine körperlichen Probleme. Meine Vorbereitung war gut, aber natürlich gibt es immer Dinge, die man noch optimieren kann.»
Dereinst soll der Leistungsabfall von Seglern in Echtzeit vorausgesagt werden könnenMit mehr als 30 000 gesegelten Seemeilen, viele davon während regulärer Regatten absolviert, ist Charrez nicht nur Forscherin, sondern selbst eine erfahrene Offshore-Seglerin. Die 23-Jährige sagte: «Segeln ist meine Leidenschaft. Jetzt kann ich diese beiden Welten – Wissenschaft und Segelsport – miteinander verbinden.» Charrez ist überzeugt, dass ihre Forschung langfristig einen Beitrag zur Leistungssteigerung im Hochseesegeln erbringen kann – vor allem in der Erholungs- und Vorbereitungsphase. «Segler können auf dieser Basis ihre Erholungsstrategien nach einem Rennen gezielter ausrichten oder ihre Ernährungs- und Flüssigkeitszufuhr vor dem Start besser planen», sagte sie.
Auch beim nächsten grossen Projekt ist Charrez bereits an Bord: Beim bevorstehenden Ocean Race Europe wird sie mit dem von einem Schweizer Baustoffkonzern gesponserten Team weiterführende Untersuchungen durchführen. Ihr Ziel ist ambitioniert: Sie will ein System entwickeln, das den körperlichen und mentalen Leistungsabfall von Seglern in Echtzeit vorhersagen kann.
«Ich möchte eine Plattform schaffen, die das Team-Management dabei unterstützt, Sicherheit und Leistungsfähigkeit in risikoreichen Berufen zu verbessern», sagte Charrez. Hierfür arbeitet sie auch mit Athleten anderer Extremsportarten sowie mit Feuerwehrleuten und Militärangehörigen zusammen. Ihre Forschung reicht also weit über den Segelsport hinaus – doch der Ozean bleibt ihr wichtigstes Labor.
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