Duell der fliegenden Fische – Noè Ponti gewinnt in Singapur seine zweite WM-Medaille


Patrick B. Kraemer / Keystone
Im Final sei alles möglich – das ist eine Art Mantra von Noè Ponti. Und an diesem Samstag tut er alles, um das Beste möglich zu machen. Er startet gut, schwimmt die erste Streckenhälfte besser denn je, zeigt eine perfekte Wende und zieht sein Rennen bis zum letzten Meter durch. Doch neben ihm schwimmt mit dem Franzosen Maxime Grousset einer, der mit Wucht und Willen dagegenhält. Er unterbietet in 49,62 Sekunden den Europarekord, für Ponti bleibt in 49,83 Sekunden Silber.
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Mit diesem Ausgang des Rennens hatte wohl niemand gerechnet. Grousset ist ein extrem schneller Kraftbrocken, dessen Muskeln aber mit zunehmender Distanz übersäuern. Eigentlich ein Spezialist für den Kurzsprint über 50 Meter. Doch an diesem Tag scheint er keinen Schmerz zu kennen. Anders als über 50 Meter, als er den führenden Ponti erst mit den letzten Zügen abfing, führt er diesmal vom Start bis ins Ziel.
Pontis erste Medaillen auf der langen BahnPonti war der grosse Favorit in diesem Rennen, aber er kann auch diese zweite Niederlage mit Fassung tragen. Über 50 wie über 100 Meter schwamm er im Final Schweizer Rekord, und vor allem bewies er sich und der Welt, dass er nicht nur auf der kurzen Bahn zu den Allerbesten gehört. Auf der 25-Meter-Bahn hatte er im letzten Spätherbst alle dominiert, mehrere Weltrekorde aufgestellt und drei WM-Titel gewonnen.
Doch die lange Bahn ist eine andere Geschichte, und die WM in Singapur waren auch besser besetzt als jene im letzten Dezember in Budapest. Pontis Silbermedaillen sind seine ersten an WM im 50-Meter-Becken, und es sind erst die Nummern 9 und 10 für die Schweiz. Das zeigt, wie aussergewöhnlich solche Leistungen für Athleten dieser kleinen Schwimmnation immer noch sind.
Welcher Aufwand hinter solchen Exploits steht, ist kaum vorstellbar. Schwimmer verbringen fast mehr Zeit im Wasser als an Land. Ponti paddelt in einem 50-Meter-Becken ungezählte Male hin und her, bis zu 90 Kilometer pro Woche, über 3000 Kilometer pro Jahr. Am Ende der Karriere wird der Tessiner einmal rund um die Welt geschwommen sein. Wie ein Delfin, der durch die Weltmeere pflügt.
Wenn Ponti schwimmt, steht am Beckenrand stets Massimo Meloni, der Trainer. Auf dem ersten Kilometer, wenn es darum geht, die Muskeln aufzuwärmen, schaut er sehr genau hin. Wie locker gleitet Ponti durchs Wasser? Hat er noch schwere Arme von den Sprints am Vorabend?
Je nach Verfassung des Athleten adaptiert der Coach den Trainingsinhalt. Er lässt den Delfinspezialisten die langen Ausdauereinheiten im Crawl-Stil absolvieren, nur spezifische Techniktrainings und Sprints werden in der Wettkampfdisziplin geschwommen. «Würde Noè oft langsam Delfin schwimmen, wäre das schlecht für seine Technik», sagt Meloni.
Ponti und seinen Trainer verbindet eine Vertrauensbeziehung. «Ich verbringe mehr Zeit mit Noè als seine Eltern», sagt Meloni. Und das beschränkt sich nicht nur auf die Zeit im Schwimmbad. Die beiden tauschen sich auf Spaziergängen aus, gehen miteinander im Restaurant essen, und manchmal lädt Meloni seine Trainingsgruppe auch zu sich nach Hause ein.
Dann kocht der Trainer, oder er assistiert den Schwimmern am Herd. «Ich habe Noè das Kochen beigebracht», sagt Meloni. Seine Mutter sei eine der besten Köchinnen Italiens gewesen, die Familie besitze drei Restaurants, eines in Rom und zwei in der Toskana. Pontis Spezialität? Carbonara.
Ein Burnout bringt die entscheidende WendeDer Schwimmer ist ein Mensch, der sich wohlfühlen muss, um absolute Topleistungen zu erbringen. Das zeigte sich 2021 bei seinem Abstecher an eine Uni in den USA. Ponti zog sich nach ein paar Tagen der Euphorie auf sein Zimmer zurück, hinterfragte seinen Wechsel nach Amerika, und als er zu Hause anrief, brach er in Tränen aus. Er war in ein Burnout geraten, flog nach nur sechs Wochen zurück in die Schweiz und begab sich wieder unter die Fittiche von Meloni.
Dass die beiden überhaupt zusammengefunden haben, hängt mit einem anderen Tiefpunkt in der Karriere Pontis zusammen. Als Jugendlichen aufgebaut und ans internationale Niveau herangeführt hatte ihn Massimo Baroffio. Dieser wurde 2019 mit Kokain an der Schweizer Grenze erwischt und vom Verein in Locarno fristlos entlassen. Ponti hat seither kein Wort mehr mit ihm geredet.
In Meloni fand er einen neuen Mentor. Der Italiener arbeitet als Cheftrainer am nationalen Leistungszentrum in Tenero. Er verschrieb Ponti höhere Trainingsumfänge und somit eine solidere Basis, um den federleichten Schwimmstil lange halten zu können. Meloni legt auch viel Wert auf das Schwimmen unter Wasser. Eine Einheit bei ihm umfasst sechs Kilometer, wovon 800 Meter unter Wasser absolviert werden.
Das ist ein wichtiger Schlüssel zu Pontis Erfolgen. Nach dem Start und den Wenden dürfen die Schwimmer bis zu 15 Meter unter Wasser bleiben. Sie peitschen sich dabei mit Wellenbewegungen voran, ähnlich wie Fische. Ponti beherrscht diese sogenannten Delfin-Kicks perfekt, sein Trainer sagt, er sei unter Wasser der beste Schwimmer der Welt.
Wenn der 24-Jährige auftaucht, scheint er über das Wasser zu fliegen. Er hält den Kopf vergleichsweise lange flach über Wasser, wodurch er den Widerstand minimiert, und lässt seine Arme wie die Flügel eines Schmetterlings nach vorne gleiten, ehe er wieder ins Becken eintaucht. Dass hinter dieser Anmut auch viel Kraft steckt, zeigen Bilder der Unterwasserkameras an den WM. Ponti greift das Wasser regelrecht und wuchtet den Körper nach vorne.
Es wird interessant sein, die Entwicklung des Delfinschwimmens bis zu den Sommerspielen 2028 in Los Angeles zu verfolgen. Dort stehen erstmals auch in dieser Disziplin die 50-Meter-Sprints auf dem olympischen Programm. An den WM in Singapur musste sich Ponti über 50 Meter knapp dem französischen Kraftbrocken Maxime Grousset geschlagen geben, und dieser setzte sich auch über 100 Meter durch.
Werden künftig auf beiden Sprintdistanzen kräftige, breitschultrige Athleten dominieren? Oder bevorteilt diese Distanz weiterhin eher schmale, elegante Schwimmer wie Ponti – und hatte Grousset einfach eine Sternstunde? Der Trainer Meloni hat für Pontis Krafttraining einen Coach engagiert, der aus dem Kunstturnen kommt. Dieser legt viel Wert auf Beweglichkeit und steuert das Training mit den Hanteln so, dass zwar Kraft aufgebaut wird, aber möglichst wenig Volumen und Masse. Ob es da mit Blick auf LA 2028 kleine Anpassungen braucht?
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