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Parasport in Deutschland in Gefahr

Parasport in Deutschland in Gefahr

Gut besuchte, fast ausverkaufte Sportstätten, hunderte sportliche Highlights und merh als 60 Stunden Live-Berichterstattung bei den deutschen TV-Sendern ARD und ZDF. Rund 2,4 Millionen Eintrittskarten wurden für die paralympischen Wettkämpfe in Paris 2024 verkauft.

Das ist der höchste Wert für Sommer-Paralympics seit den Spielen 2012 in London (2,7 Millionen). Kurzum: Die letztjährigen Paralympics waren ein voller Erfolg.

"Wenn man die Paralympics sieht, dann wirkt alles wie eine große heile Welt. Wir sind mit dem 'Team D Paralympics' gut aufgestellt und haben auch große Erfolge eingefahren", sagt Flora Kliem im DW-Interview. Die Para Bogenschützin war in Paris erstmals am Start und ist auch ein Jahr danach immer noch fasziniert von der Atmosphäre.

Doch hinter ihrer Begeisterung verbirgt sich auch eine ernüchternde Erkenntnis, denn, "wenn man hinter die Kulissen guckt," so die 27-Jährige, "sieht man, was für strukturelle Probleme es gibt".

Keine Barrierefreiheit in Sporthallen

Während sich der Para Sport an der Spitze immer mehr professionalisiert, hapert es an der Basis an grundlegenden Dingen. Viele Sporthallen seien immer noch nicht barrierefrei, viele Sportangebote nicht inklusiv, kritisiert die Paralympionikin. "Es kann nicht sein, dass man als Mensch mit Behinderung dafür kämpfen muss, Sport machen zu dürfen. Das ist ein großes Problem."

Kliem kennt diese Probleme aus eigener Erfahrung, denn die Bogenschießanlage ihres Vereins in Göttingen war vor einigen Jahren für Menschen mit Behinderung ebenfalls nur schwer zugänglich. "Ich habe jetzt den Luxus eines barrierefreien Bogenplatzes, der so umgebaut wurde, weil ich hier schieße. Wir haben das aber nicht überall."

Rund 55 Prozent treiben keinen Sport

Mangelnde Zugänglichkeit auf der einen, Trainerinnen- und Trainermangel auf der anderen Seite. Laut dem aktuellem Sportentwicklungsbericht des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) ist die Zahl der Übungsleitungslizenzen in den vergangenen Jahren kontinuierlich gesunken. Waren es 2020 noch mehr als 45.000 Lizenzen, die vergeben wurden, ging die Zahl bis 2024 um rund 15 Prozent zurück.

Para-Bogenschützin Flora Kliem (li.) steht mit Nachwuchssportlerin Nomine Fabian (r.) auf dem Bogenschießstand in Göttingen
Para-Bogenschützin Flora Kliem (li.) und die Nachwuchssportlerin Nomine Fabian auf dem BogenschießstandBild: Thomas Klein/DW

Zudem würden laut dem Teilhabebericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2021 rund 55 Prozent der Menschen mit einer Behinderung keinen Sport treiben. Bei Kindern und Jugendlichen ohne Beeinträchtigungen beträgt der Anteil dagegen lediglich 27 Prozent.

"Sport ist gesundheiterhaltend und fördert soziale Kontakte", sagt Kliem und betont: "Gerade für Kinder mit Behinderung ist es wichtig, dass sie den gleichen Zugang zu Sport bekommen wie alle anderen Kinder auch."

Bessere Ausbildung für Trainerinnen und Trainer

Auch Dr. Leopold Rupp von der Deutschen Behindertensportjugend (DBSJ) kritisiert die Ungleichbehandlung beim deutschen Sportangebot. "Infrastruktur im Sport muss barrierefrei sein", mahnt Rupp und ergänzt: "Es muss zudem Übungsleiterinnen und -leiter geben, die auch für das Kind im Rollstuhl oder das Kind mit Sehbehinderung Sport anbieten können. Menschen müssen sich den Job des Trainers oder der Trainerin zutrauen und in dem Bereich richtig ausgebildet sein", sagt der 32-Jährige im Interview mit der DW.

Rupp, der 2012 als Sportschütze an den Paralympics in London teilgenommen hat, sieht durch den deutlichen Rückgang bei den oft ehrenamtlich arbeitenden Menschen ein großes Problem für den Nachwuchs im Parasport. Der paralympische Sport sei deutlich mehr auf ehrenamtliche Strukturen angewiesen als der olympische Sport, sagt er.

Kliem: "Das halte ich für eine Folter"

Für Kliem, die gerade ihr Lehramtsstudium parallel zum Leistungssport absolviert, liegen die Schwierigkeiten zusätzlich noch in einem anderen Bereich: der Schule. "Es ist ein ganz großes Problem, dass Kinder mit Behinderung oft vom Sportunterricht ausgeschlossen werden", sagt die angehende Pädagogin der DW. "Manchmal müssen die Kinder zugucken, während andere Sport treiben, und das halte ich für eine Folter. Das muss geändert werden."

Auch wenn Kinder in der Lage seien, Sport zu treiben, so die Lehramtsstudentin, würden viele Lehrkräfte eher darauf verzichten, diese Kinder in den Unterricht zu integrieren. Stattdessen "werden die Kinder dann instrumentalisiert, um zum Beispiel die Zeit zu nehmen. Sie haben dadurch im Sportunterricht einen ganz anderen Stellenwert", so Kliem. "Das schließt sie aus der Klassengemeinschaft aus, und da muss eine Lösung gefunden werden."

Es gebe zum Beispiel einige Sportarten, die inklusiv seien und die man innerhalb des Sportunterrichts ausprobieren könnte. "Mir kann niemand erzählen, dass man nicht allen Kindern mal die Augen verbinden und dann beispielsweise Blindenfußball oder Sitzvolleyball ausprobieren könnte", so die Sportlerin.

Flora Kliem steht bei der Europameisterschaft in den Niederlanden an der Linie und visiert beim Para-Bogenschießen das Ziel an
Para Bogenschützin Flora Kliem bei den Europameisterschaften 2023 in den NiederlandenBild: Ralf Kuckuck/IMAGO

Rupp sieht vor allem bei der fehlenden Ausbildung der Lehrkräfte Nachbesserungsbedarf. Die müsse deutlich besser werden, sagt der Paralympics-Teilnehmer. "Die Lehrerinnen und Lehrer müssen dazu befähigt werden, Kinder mit Behinderung am Sportunterricht teilnehmen lassen zu können." Das sei essentiell, so Rupp.

Rupp: "Brauchen einen langen Atem"

Die Probleme an der Parasport-Basis sind deutlich erkennbar und könnten in den kommenden Jahren auch Einfluss auf die Leistungsspitze haben. Schon jetzt hinkt Deutschland der Weltspitze hinterher und muss anderen Nationen dabei zusehen, wie sie immer erfolgreicher werden.

Bei den letzten Paralympics in Paris holten die deutschen Athletinnen und Athleten 49 Medaillen, 2021 in Tokio waren es 43 und 2016 in Brasilien 57. China war im vergangenen Jahr mit insgesamt 220 Medaillen die Top-Nation, gefolgt von Großbritannien (124) und den USA (105).

"Wenn wir wollen, dass wir international wieder besser werden, dann brauchen wir eine langfristige und inhaltlich sinnvolle Sportförderung mit sinnvoller Jugendarbeit", sagt Rupp. Die Ergebnisse seien dann wahrscheinlich erst in den kommenden Jahren zu sehen. "Man braucht dafür einen langen Atem", so der 32-Jährige.

dw

dw

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