Pleite gegen Portugal: Kapitän Kimmich redet Tacheles

Es kommt selbst bei Joshua Kimmich selten vor, dass er von Amts wegen noch im verschwitzten Hemd das Wort ergreift. Nach seinem 100. Länderspiel aber sah sich der 30-Jährige veranlasst, Tacheles zu reden. Julian Nagelsmann konnte sich eine unmittelbare Manöverkritik somit ersparen. Die erledigte seine Führungskraft. „Josh“, lobte Nagelsmann den Jubilar, habe „wahre Worte gefunden“.
Die teaminterne Nachbetrachtung vom Bundestrainer folgt, um die ramponierte Mannschaft zumindest halbwegs in Form fürs Spiel um Platz drei am Sonntagnachmittag in Stuttgart zu bringen. Er habe „keine Lust, auf die Mannschaft draufzuhauen“. Nagelsmann hörte sich nicht so an, als sähe er seine mentale Aufbauarbeit als leichte Aufgabe an: „Psychologisch ist es kein Feuerwerk, dass wir jetzt um Platz drei spielen.“ Das klang einigermaßen fatalistisch.
Sogar die deutschen Tugenden fehltenKimmich, der beim 1:2 im Münchner Halbfinale der Nations League gegen Portugal einer der am wenigsten schwachen deutschen Spieler gewesen war, soll in der Tonalität noch deutlicher geworden sein als hinterher in der Interviewzone: „Man hat nicht gemerkt, dass wir eine Siegermentalität haben, dass wir die Gier haben, dass wir ins Finale einziehen wollen.“
Nagelsmanns Vorvorgänger Joachim Löw ist bestimmt hundertmal als Fußballmissionar in allen Bundesländern unterwegs gewesen. Immer wieder und wieder hat der Ex-Bundestrainer insistiert, dass ein DFB-Team mit „deutschen Tugenden“ keine Titel gewinnen kann. Dafür sei der Fußball in seiner Entwicklung zu weit fortgeschritten. Da hat Löw nicht unrecht, das Problem ist nur: Die deutschen Tugenden muss die Nationalmannschaft als Basis schon mitbringen, um auf solcher Grundbereitschaft einen eigenen Spielstil aufbauen zu können.
Gerade eine Mannschaft wie diese, gebeutelt vom Fehlen verletzter Spieler, kann es sich nicht leisten, Zweikämpfe ohne Wucht zu führen, Stellungsspiel wie ein Unterprimaner zu praktizieren, es zum Ende hin an jedwedem Zusammenhalt mangeln zu lassen und dabei fatal ans 1:2 zum WM-Auftakt in Katar gegen Japan zu erinnern. Nagelsmann konnte seine „große Enttäuschung“ hinter seinem schalen, schmalen Schnäuzer nicht verstecken und wunderte sich über die fehlende „Galligkeit“ seiner Eleven.
Ter Stegen vollführt wahre HexenwerkeWenn der anfangs notorisch Unsicherheit verbreitende Rückkehrer Marc-André ter Stegen nicht in der Schlussphase wahre Hexenwerke vollführt hätte, um Bälle abzuwehren – der völlig verdiente Sieg der ekstatisch jubelnden Portugiesen hätte deren überlegene Qualität auch in Zahlen besser ausgedrückt. Dass Deutschland mit dem Resultat bestens bedient war, schließt das Führungstor mit ein.
Der insgesamt wenig souveräne Schiedsrichter Slavko Vincic aus Slowenien, eigentlich ein Meister seines Fachs, wäre besser beraten gewesen, dem schön herausgespielten Kopfballtreffer von Florian Wirtz die Anerkennung zu versagen. Denn Nick Woltemade hatte sich zum wiederholten Mal im Abseits befunden, und zwar aktiv, weil er dabei einen portugiesischen Abwehrspieler bedrängte.
Selbst dieses Gastgeschenk aus Slowenien war am Ende aber zu klein. Kaum führte Deutschland, brachte Nagelsmann mit weniger methodisch als vielmehr mechanisch anmutenden Auswechslungen eine mühsam zusammengebastelte Mannschaft vollends aus dem Tritt. Robin Gosens, Serge Gnabry und Niclas Füllkrug schafften es spielend, noch schwächer zu agieren als ihre Vorgänger Maxi Mittelstädt. Leroy Sané und Nick Woltemade. Einzig der später hinzugezogene Dortmunder Karim Adeyemi machte ein bisschen Betrieb.
Füllkrug und Gosens kommen mit ihren Füßen nicht zurechtNagelsmann erklärte, er habe mit seinen personellen Maßnahmen „den Energielevel“ heben wollen und fügte etwas schnippisch an, es gehöre zum „Anforderungsprofil meines Jobs, Auswechslungen vorzunehmen“. Da hat er natürlich recht, und daran wird er ja auch gemessen. Füllkrug und Gosens, die qua ihrer Persönlichkeit als Energiegeber für die Köpfe der anderen gedacht waren, kamen aber mit ihren Füßen nicht zurecht. So nahm das Unheil seinen Lauf. Die Portugiesen rannten den Deutschen einfach auf und davon.
Serge Gnabry seinerseits dürfte bei der anstehenden Videoanalyse bei selbstkritischer Betrachtung im Boden versinken. Sein nichtsnutziges Verhalten vor dem entscheidenden Treffen von Cristiano Ronaldo, der Portugal durchs große Tor ins Finale schreiten lässt, wäre selbst eines Nationalspielers des Fifa-Weltranglistenletzten San Marino unwürdig gewesen.
Um die gedemütigten Burschen ein bisschen aufzupäppeln, könnte Nagelsmann in der kurzen Vorbereitung aufs kleine Finale darauf hinweisen, dass ein Sieg Auswirkungen auf die Aussichten hat, sich zu den neun besten Mannschaften im Fifa-Ranking zu gesellen, die im Falle einer erfolgreichen WM-Qualifikation in Lostopf eins liegen und sich so Top-Gegnern entziehen. Fragt sich nur, ob solche Botschaften noch Gehör finden.
Berliner-zeitung