Was bringt eine WTO ohne die USA?

Der Vorstoß von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Kanzler Friedrich Merz hat für Aufsehen gesorgt. Denn seit dem EU-Gipfel Ende Juni steht im Raum, dass unter der Federführung der EU eine Alternativ-Organisation zur 1994 gegründeten Welthandelsorgansiation (WTO) entstehen könnte.
Ein besonders enger Schulterschluss mit gleichgesinnten Handelsnationen in Asien sei geplant, betonte Ursula von der Leyen und bezog sich dabei auf die Zusammenarbeit mit dem CPTPP, dem "Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership". Das Handelsbündnis besteht aus Australien, Brunei, Kanada, Chile, Japan, Malaysia, Mexiko, Neuseeland, Peru, Singapur und Vietnam. Inzwischen ist auch das Vereinigte Königreich als erstes europäisches Land beigetreten.
Friedrich Merz sprach bereits von einer "neuen Art von Handelsorganisation", die schrittweise ersetzen könnte, "was wir mit der WTO heute nicht mehr haben." Die Organisation mit Sitz in Genf leidet seit Jahren unter veralteten Regeln, deren Reform bislang an der Uneinigkeit ihrer Mitglieder scheiterte.
Streitschlichtung kaum noch möglichEntscheidend ist aber die Anspielung des Bundeskanzlers auf die weitgehende Lähmung der Streitschlichtung bei Handelsdisputen. Denn die Vereinigten Staaten blockieren seit 2009 - der Amtszeit von George W. Bush - die Neubesetzung von Richtern am höchsten Gericht für den Welthandel, dem "WTO Appellate Body".
Auch alle weiteren US-Regierungen - ganz gleich ob unter demokratischen oder republikanischen Präsidenten - hielten diese Blockade aufrecht. Sie protestieren so gegen die Urteile der letzten juristischen Instanz für Handelsdispute, die aus ihrer Sicht den nationalen Interessen der USA schaden.
Das hat dazu geführt, dass Handelsstreitigkeiten nicht mehr endgültig entschieden werden können, sobald eine Partei in Berufung geht. Zu den ungeklärten Fällen gehören der Streit zwischen der EU und Indonesien um den Export von Nickelerzen, die Entscheidung über die Zulässigkeit von Subventionen an die Flugzeugbauer Boeing und Airbus oder Verfahren gegen China wegen Anti-Dumpings.
Liberalisierung des Welthandels ohne die USAAber kann Europa ohne Unterstützung der USA eine neue WTO gründen? Und wie sinnvoll wäre ein Zusammengehen mit gleichgesinnten Partnern rund um den Globus, besonders im asiatisch-pazifischen Raum? Jürgen Matthes, Experte für internationale Wirtschaftspolitik am Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln, kann sich im Interview mit der DW durchaus mit der Initiative anfreunden.
"Ein tatsächlicher Beitrittsantrag bei CPTPP wäre ein wichtiger strategischer Schritt in verschiedenen Hinsichten, denn das würde ein klares Signal an die USA senden, dass sie sich mit ihrem Protektionismus isolieren, während um sie herum die Liberalisierung des Welthandels weitergeht", so Matthes.
"Es würde ein bemerkenswert großes überregionales Handelsabkommen schaffen, weil wichtige Staaten dabei sind und die EU der größte Block darin ist. Es wäre ein Abkommen, das nahezu alle Kontinente umfasst. Und vielleicht gelingt es ja noch, das ein oder andere afrikanische Land mit dazu zu nehmen", so der Handelsexperte. "Damit könnte man einen "Open Club" mit offenen Bedingungen schaffen, der aber faire Wettbewerbsregeln als Beitrittsvoraussetzung formuliert."
Ohne USA, ohne ChinaDas heiße aber, dass China zunächst nicht dabei sein kann, weil Peking nicht gerade für faire Wettbewerbsregeln bekannt sei.
"Es geht strategisch darum, ein Handelsbündnis zu schaffen, das mit den Problemen umgeht, die im Moment auf der Welt im Handelsbereich akut sind: Das ist eben nicht nur der US-Protektionismus, sondern das sind auch die massiven Wettbewerbsverzerrungen durch die immensen Subventionen Chinas, gegen die wir nicht richtig ankommen, weil die WTO-Regeln zu große Lücken haben", argumentiert Matthes.
Es gehe für die EU mit Blick auf China darum, in einem solchen Handelsbündnis strikte Wettbewerbsregeln festzuschreiben, "mit Blick auf Staatsunternehmen und Industriesubventionen. Dann könnte man sagen, da kann jeder mitmachen, der diese Bedingungen erfüllt."
Dafür müsse China allerdings sein System gehörig ändern und Wettbewerbsverzerrungen und Subventionen abbauen. Oder sich endlich auf eine durchgreifende Reform der WTO-Regeln einlassen.
Allianz der Willigen bei der Streitschlichtung in der WTOSchon jetzt gibt es eine Antwort der Verfechter des Freihandels, die auf den Namen "MPIA" hört. Das "Multi-Party Interim Appeal Arbitration Arrangement" wurde innerhalb der WTO geschmiedet, um eine alternative Schiedsgerichtsbarkeit ohne die USA zu gewährleisten. Mittlerweile machen nach Angaben der EU-Kommission 57 Länder bei MPIA mit, die für 57,6 Prozent des Welthandels stehen. Mit dabei ist neben den EU-Staaten auch das Vereinigte Königreich.

Wirtschaftsvereinigungen wie der Bundesverband Groß- und Außenhandel (BGA), der die Interessen der deutschen Exportunternehmen vertritt, wollen aber auf keinen Fall die WTO geschwächt sehen.
Der Ansatz, mit einer kleineren Gruppe funktionierender Demokratien - etwa über CPTPP - einen neuen Rahmen zu schaffen, habe durchaus strategische Vorteile, sagte BGA-Präsident Dirk Jandura der Nachrichtenagentur Reuters. Allerdings gebe es Risiken: So dürfe der Welthandel nicht in konkurrierende Handelsblöcke mit unterschiedlichen Regeln zerfallen. "Entscheidend ist, dass diese neue Organisation nur als Übergangslösung konzipiert werden darf, mit dem klaren Ziel, die WTO zu reformieren und nicht zu ersetzen."
Reform statt Ersatz der WTOAuch Brüssel betont, dass man keineswegs die WTO überflüssig machen wolle. Kommissions-Chefin von der Leyen sagte, dass die "strukturierte Zusammenarbeit" mit den asiatischen CPTPP-Ländern die Basis für den Beginn einer Neugestaltung der WTO sein könnte.
Selbst der bisherige Chefökonom der WTO, Ralph Ossa, machte im Wirtschafts-Podcast der DW keinen Hehl daraus, dass sich die Welthandelsorganisation erneuern müsse. "Braucht die WTO Reformen? Auf jeden Fall", sagte Ossa, der seit dem 1. Juli wieder an seiner alten Wirkungsstätte, der Universität Zürich, lehrt.
Das deutsche Wirtschaftsministerium unterstreicht diese Lesart: Die WTO sei tatsächlich reformbedürftig, weshalb sich die Bundesregierung zusammen mit der EU-Kommission für Reformen einsetze, sagte der Sprecher von Wirtschaftsministerin Katherina Reiche. Dabei gehe es etwa um neue Regeln bei Industriesubventionen zur Schaffung eines fairen Wettbewerbs, Initiativen zum digitalen Handel und Investitionserleichterungen. Die EU sei darüber bereits mit Ländern im Austausch, die sich zu offenem und regelbasiertem Handel bekennen würden, etwa mit den Mitgliedern des CPTPP.
Handelspolitische MehrdeutigkeitDass die EU starke Signale in die USA und nach China sendet, könnte auch damit zusammenhängen, dass man seit Trumps "Zollhammer" bewusst mehrdeutig kommuniziert. Die Botschaft ist: Die Mehrheit der Handelsnationen sind Anhänger eines regelbasierten Handels.
Dem Kölner Handelsexperten Matthes schwebt ein Club unter der Überschrift "Offene Märkte mit fairem Handel" vor. "Bei offenen Märkten sind die USA raus und bei fairem Handel ist China raus, es sei denn, die USA ändern sich unter einer neuen Regierung und man habe es künftig mit einem anderen China zu tun.
Matthes sieht gleich eine ganze Reihe von Vorteilen: "Wir schaffen mehr Handelsliberalisierung und öffnen für uns neue Märkte. Die USA isolieren wir stärker und zeigen Trump, dass Protektionismus am Ende ein Irrweg ist." Außerdem könnten die Europäer ein wichtiges Signal an China senden, dass man seine Wettbewerbsverzerrungen nicht mehr hinnehmen will.
dw