Ein Samenspender zeugt 67 Kinder. Dann stellt sich heraus: Er trägt ein Risikogen in sich, zehn Kinder sind bereits an Krebs erkrankt. Wie konnte das passieren?


Illustration Getty; Bearbeitung NZZ
Es ist Ende 2023, als Edwige Kasper zum ersten Mal von dem Problem mit TP53 hört. Das Kürzel steht für ein Gen, auf das sich die junge Genetikerin am Universitätsspital im französischen Rouen spezialisiert hat. Und es steht im Mittelpunkt eines Briefs, der ihr von einem Kollegen weitergeleitet wurde.
NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.
Bitte passen Sie die Einstellungen an.
Darin informiert eine in ganz Europa operierende Samenbank mit Sitz in Kopenhagen eine ihrer früheren Kinderwunsch-Kundinnen: Im Sperma des biologischen Vaters ihres Kindes sei eine «variant of unknown significance» im Gen TP53 entdeckt worden. Die European Sperm Bank beliefert bis zu 75 Familien mit dem Samen eines Spenders. Kasper kann sich also ausrechnen: Die Frau dürfte nicht die einzige Adressatin eines solchen Briefes sein.
«Variante unklarer klinischer Bedeutung» – das heisst eigentlich: Der Buchstaben-Code des Gens enthält im Vergleich zur gängigen Variante einen Fehler, es ist aber noch unklar, welche Folgen dieser hat. Allerdings gehört TP53 zu den Genen, in denen man am allerwenigsten einen Fehler haben möchte. Es übernimmt in den Zellen des Körpers eine derart zentrale Rolle, dass Forscher ihm einen eigenen Ehrentitel verliehen haben: «Wächter des Genoms».
TP53 enthält die Bauanleitung für das Eiweiss p53, einen sogenannten Tumorsuppressor, der die Teilung und das Wachstum von Zellen bremst, wenn deren Erbgut beschädigt wurde. Die Zelle erhält dadurch Zeit, diese Schäden entweder zu reparieren oder sich per «programmiertem Zelltod» selbst aus dem Verkehr zu ziehen. Im Klartext: p53 verhindert Krebs.
Zwar existiert in jeder Zelle eine väterliche und eine mütterliche Kopie dieses Gens, doch schon der Ausfall einer dieser Kopien durch eine Mutation führt dazu, dass nicht mehr genug Tumorsuppressor produziert wird. Die Folge: Angehende Tumorzellen werden nicht mehr effektiv bekämpft; das Risiko, vor dem 30. Geburtstag an Krebs zu erkranken, steigt um den Faktor 50.
Mehrere Krebsfälle führten auf die SpurLi-Fraumeni-Syndrom heisst diese angeborene Anfälligkeit für zahlreiche verschiedene Krebsarten, oft zeigt sie sich schon im Kindesalter. Die einzige Gegenmassnahme ist eine engmaschige Überwachung der Betroffenen, um Tumoren früh erkennen und bekämpfen zu können.
Dass die Mutation im Fall des dänischen Spenders nicht harmlos ist, wird Kasper aus dem Brief schnell klar: Der Mann selbst sei zwar bei guter Gesundheit, steht da. Jedoch seien unter seinen Kindern bereits Fälle von Blutkrebs aufgetreten. Die weitere Nutzung der Spermien dieses Spenders sei inzwischen unterbunden worden. Es wird auch darauf hingewiesen, dass sich die Mutation in weniger als der Hälfte aller Spermien des Mannes finde – die Samenspende wird nachträglich zur Lotterie.
Über das folgende Jahr hinweg macht sich Kasper wie eine Detektivin auf eine genetische Spurensuche. Sie analysiert die zuvor unbekannte Variante mithilfe von computergestützten Vorhersagemodellen und durchforstet relevante Studienergebnisse. Gleichzeitig untersuchen Kollegen quer durch Europa die Fälle in ihren eigenen Ländern.
Der Samenspender hat Kinder in ganz EuropaDas Rechercheergebnis stellte Kasper vor zwei Wochen auf dem Jahreskongress der Europäischen Gesellschaft für Humangenetik in Mailand vor. Es bestätigt den Verdacht: Die Variante ist wahrscheinlich krebsauslösend. Man habe 67 Kinder des Spenders aus 46 Familien ausfindig gemacht, die alle zwischen 2008 und 2015 auf die Welt gekommen seien.
Die Fälle verteilen sich auf acht europäische Länder, 51 allein in Belgien. Die übrigen Kinder leben offenbar in Frankreich, Deutschland, Dänemark, Schweden, Spanien, Griechenland und dem Vereinigten Königreich. Bei 23 dieser Kinder sei die fehlerhafte Genvariante gefunden worden, zehn von ihnen seien bereits an Krebs erkrankt, so Kaspers Bericht.
Nüchterne Zahlen, die für die betroffenen Familien eine Hiobsbotschaft sind. Es drängt sich die Frage auf, ob und wie man dieses Leid hätte verhindern können.
Wurde der Samenspender unzureichend überprüft?Nach allem, was über diesen speziellen Fall bekannt ist, kann man aber weder dem Spender noch der Samenbank ein Fehlverhalten vorwerfen. Denn der konkrete Fall ist ein ganz spezieller: Bei der Mutation handelt es sich um ein sogenanntes Keimzellmosaik.
Das bedeute, dass der Spender den Fehler im Erbgut nicht von einem Elternteil geerbt habe, erklärt Sven Cichon, Humangenetiker am Universitätsspital Basel. Vielmehr sei die Mutation spontan während der frühkindlichen Entwicklung des Mannes in einer der Vorläuferzellen entstanden, aus denen letztlich Spermien gebildet würden. «Sie wurde dann an alle Zellen, die aus diesem Vorläufer entstanden sind, weitergegeben – und damit auch an die später produzierten Spermien. Je nachdem, wie früh oder spät die Mutation aufgetreten ist, ist der Anteil der mutierten Spermien höher oder niedriger.»
Weil nur bestimmte Zellen im Hoden betroffen sind, lässt sich die Mutation nicht in Blut- oder Speichelproben nachweisen. Das erklärt zudem, warum der Mann selbst offenbar nicht unter dem Li-Fraumeni-Syndrom leidet. «In der Anamnese und einer Routine-Diagnostik ist er deshalb vermutlich gar nicht aufgefallen. Das ist eben die Crux mit den Keimzellmosaiken», sagt Cichon.
Auf krankhafte Gene wird nur zurückhaltend getestetWas decken solche Standard-Überprüfungen denn sonst ab? Am Anfang stehe immer die Qualitätsprüfung des Spendersamens in spe, sagt der Reproduktionsmediziner Gideon Sartorius, Experte für Samenspende am Kinderwunschzentrum Fertisuisse in Basel und Olten. Nur jeder zehnte Mann, der vorstellig werde, habe Spermien in ausreichend grosser Anzahl und Vitalität. Die Ansprüche seien sehr hoch, damit nach dem verlustreichen Einfrieren in flüssigem Stickstoff noch ausreichend lebensfähige Keimzellen für eine erfolgreiche Befruchtung übrigblieben.
Erst wenn diese Hürde genommen ist, folgen Tests, um eine erbliche Belastung auszuschliessen. «Hierfür gibt es in der Schweiz und den meisten europäischen Ländern keine festen Vorgaben, das Schweizer Gesetz verlangt lediglich, wir hätten sicherzustellen, dass gesunde Kinder gezeugt würden», sagt Sartorius.
Entscheidend sei in der Praxis eine gründliche Anamnese, in der die persönliche Krankengeschichte und mögliche familiäre Vorbelastungen überprüft würden. Wenn sich hieraus Verdachtsmomente für eine erblich bedingte Krankheit ergäben, gehe man diesen direkt nach. Darüber hinaus erfolgen in der Regel ein Blutbild und Tests auf Krankheitserreger wie HIV. Genetische Tests beschränken sich auf relativ häufige Krankheiten wie zystische Fibrose oder spinale Muskelatrophie, die rezessiv vererbt werden.
Solche rezessiven Erkrankungen treten nur offen in Erscheinung, wenn beide Elternteile eine schadhafte Kopie des Gens an ein Kind weitergeben. In Trägern mit nur einem krankhaften Gen bleibt der Defekt verborgen und kann in der familiären Krankengeschichte deshalb viele Generationen überspringen.
Welche weiteren Tests könnten sinnvoll sein?Dominant vererbte Krankheiten wie das TP53-bedingte Li-Fraumeni-Syndrom dagegen treten bereits bei Trägern mit nur einer defekten Kopie auf. Dadurch sind sie in der familiären Vorgeschichte kaum zu übersehen – mit der seltenen Ausnahme einer völlig neu auftretenden Mutation.
Diese hätte im Fall des dänischen Samenspenders durch kein realistisches Testszenario erkannt werden können, da sind sich die befragten Experten einig. Durchaus debattiert wird in Fachkreisen aber, inwiefern Vorab-Tests auf mögliche Risikogene sinnvoll erweitert werden könnten. Theoretisch möglich wäre da einiges, bis hin zu einer Sequenzierung des gesamten Spendergenoms.
Ein «Fass ohne Boden» nennt Sven Cichon die Idee solcher umfassender Tests ohne konkretes Verdachtsmoment. «Je mehr man testet, desto mehr unklare Varianten wird man finden, deren Relevanz für den Träger kaum abzuschätzen ist.» Und sein Kollege Markus Nöthen vom Universitätsklinikum Bonn stellt klar: «Am Ende würde da kein einziger Samenspender übrigbleiben.»
Nöthen plädiert jedoch durchaus dafür, die bisherigen Tests vernünftig zu erweitern. Etwa durch das Angebot, sowohl Spender als auch Empfängerin genetisch zu testen, um das mögliche Aufeinandertreffen auch von selteneren rezessiven Genvarianten vorhersagen zu können.
Die Angst vor der EugenikBedenken gibt es aber nicht nur wegen des enormen Aufwands für schwer zu interpretierende Testergebnisse. «Das ist auch eine ethische Frage: Müssen Spender gesünder sein als der Bevölkerungsdurchschnitt? Damit begibt man sich in das heikle Gebiet der Eugenik», meint der Reproduktionsmediziner Gideon Sartorius.
Einigkeit herrscht jedenfalls in der Forderung, die Zahl von Kindern, die ein einzelner Spender zeugt, stärker zu deckeln. In der Schweiz dürfen es schon jetzt nicht mehr als insgesamt acht Nachkommen sein. Die European Sperm Bank dagegen hat das Limit bei 75 Familien festgesetzt, die mit dem Samen eines Spenders versorgt werden dürfen. Im konkreten Fall führte dies zur grossen Zahl betroffener Kinder.
nzz.ch