Nach dem Bergsturz von Blatten: Wie gut schützt sich die Schweiz vor Naturgefahren?


In Blatten hat ein Bergsturz ein ganzes Dorf unter sich begraben. In Brienz mussten die Menschen im November wegen eines instabilen Hangs ihre Häuser verlassen. Im Misoxtal kostete im vergangenen Sommer eine Lawine aus Geröll und Schlamm drei Menschen das Leben.
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Diese Katastrophen werfen unweigerlich Fragen auf: Ist die Schweiz vor Naturgefahren gut genug geschützt? Und wird das auch mit fortschreitendem Klimawandel so bleiben?
In einem neuen Bericht hat das Bundesamt für Umwelt (Bafu) die Risiken analysiert, die der Schweiz durch die Erderwärmung bis 2060 drohen. Häufigere und intensivere Starkniederschläge, tauender Permafrost und immer mehr versiegelte Flächen führten dazu, dass das Potenzial für Naturgefahren zunehme, schreibt das Bafu. Die Risiken der Personen- und Sachschäden steigen. Die Schweiz muss sich anpassen.
Konsequenzen aus Katastrophen ziehenDabei ist die Schweiz für kommende Katastrophen grundsätzlich gut gerüstet. Zentrale Grundlage der Prävention bilden die Gefahrenkarten, die für jeden Flecken im Land Auskunft geben über mögliche Stärken und Häufigkeiten von Naturereignissen aller Art. Damit die Karten aktuell bleiben und neu auftretende oder verstärkte Gefahren abgebildet werden können, werden die Berge ständig überwacht.
Das geschieht beispielsweise mithilfe von Satellitendaten. Besonders gut eignen sich die Sentinel-1-Satelliten der europäischen Raumfahrtbehörde ESA, deren Daten frei verfügbar sind. Sie schicken einen Radarstrahl Richtung Erdoberfläche und messen die Laufzeit, bis das zurückgeworfene Signal wieder am Satelliten ankommt. Fachleute vergleichen Aufnahmen verschiedener Zeitpunkte mit diversen Methoden und erkennen daran Veränderungen des Gebirgsprofils. Daraus entstehen hilfreiche, grossflächige Karten der Bodenbewegungen.
Die Technik habe sich in den vergangenen zehn Jahren etabliert, sagt der Umweltingenieur Andrea Manconi. Er beschäftigt sich am Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) in Davos mit der Analyse von Naturgefahren. Jedes Mal, wenn einer der Radarsatelliten über eine Gegend fliege, die interessant sei, werte eine Forschungsgruppe oder eine spezialisierte Firma die Messdaten aus, so Manconi.
Verschiedene Systeme greifen zusammenDie Messdaten der Sentinel-1-Satelliten sind zwar sehr wertvoll; die Satelliten sind allerdings nicht in der Lage, hundert Prozent aller Bewegungen von Bergen in den Alpen zu detektieren. Denn die Messungen unterliegen gewissen Einschränkungen.
Grundsätzlich erkennen die Radarsatelliten millimetergenaue Verschiebungen. Schnee und Vegetation können diese Messungen aber verfälschen. Ausserdem gibt es eine Limitierung wegen des Blickwinkels der Satelliten: Bewegungen in Nord-Süd-Achse können nicht erfasst werden. Steile Wände sind ebenfalls problematisch.
Michael Buholzer / Keystone
Durch diese Einschränkungen entstehen Lücken in den abgeleiteten Karten der Bodenbewegungen. Diese könnten mit zusätzlichen Radarsatelliten in Zukunft teilweise gefüllt werden, sagt Othmar Frey, Dozent an der ETH Zürich, der auch als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Firma Gamma Remote Sensing tätig ist.
Die Berge werden aber nicht nur aus dem All überwacht, sondern auch direkt vor Ort – an Stellen, an denen bereits eine hohe Gefährdung festgestellt wurde. Mit bodengestützten Instrumenten wie Kameras und GPS-Geräten können schon kleinste Bewegungen des Bodens festgestellt werden. Insbesondere wenn eine Rutschung sich beschleunigt, schlagen diese Geräte Alarm.
Allein im Kanton Bern werden so 155 Risikostellen überwacht, im Kanton Graubünden sind es mindestens 42, wie die Tamedia-Zeitungen berichteten. Im Wallis hat eine Studie 2021 insgesamt 89 potenziell instabile Felswände identifiziert.
Laut dem Bericht des Bafu wohnen derzeit rund sieben Prozent der Schweizer Bevölkerung in Gebieten, die von Murgängen, Fels- oder Bergstürzen betroffen sein könnten. Durch engmaschige Überwachung können Menschenleben gerettet werden. Wenn die Gefahr zu gross wird, können Dörfer evakuiert werden, wie es in Brienz und Blatten der Fall war.
Zu viele Häuser am falschen OrtDoch gegen Sachschäden schützt Überwachung nicht. Rolf Weingartner ist emeritierter Professor für Hydrologie am Geografischen Institut der Universität Bern. «Wollen wir eine ehrliche Diskussion führen, müssen wir die Siedlungsentwicklung in den Mittelpunkt stellen», sagt er. Die Zahl der exponierten Gebäude und Infrastrukturen, die in den Gefahrengebieten stünden, habe in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen.
Problematisch seien nicht etwa die Standorte der Bergdörfer, die vor Mitte des letzten Jahrhunderts gebaut worden seien. Ihr Standort basiere auf jahrhundertealter Erfahrung und biete in der Regel einen optimalen Schutz vor Hochwassern, Lawinen und Murgängen. Eigentlicher Treiber des Risikos sei vielmehr die Ausdehnung von Siedlungen, die in den Berggebieten häufig auf den Tourismus zurückgehe, in Gebiete mit erhöhter Gefahr.
Nicht immer werden bei dieser Expansion die Auflagen eingehalten. In roten Zonen mit erheblicher Gefahr sind Neubauten gemäss dem Bund streng verboten. Trotzdem wurden dort in den vergangenen acht Jahren etwa 600 Neubauten erstellt, wie eine Erhebung der Universität Bern und des Schweizer Fernsehens im vergangenen Herbst ergab. Mit Abstand am grosszügigsten gegenüber den Grundeigentümern zeigte sich ausgerechnet der Kanton Wallis. «Das darf in Zukunft nicht mehr vorkommen», sagt Weingartner.
Herausforderungen durch den KlimawandelBesonders viele Schäden werden durch Hochwasser verursacht. Eine Analyse aus dem Jahr 2021 hat gezeigt, dass rund 300 000 Gebäude mit einem Neuwert von 500 Milliarden Franken in hochwassergefährdeten Gebieten stehen.
Ausserdem gilt: Die Hälfte aller von Hochwasser verursachten Schäden entsteht nicht dadurch, dass ein Fluss über die Ufer tritt. Stattdessen kommt es bei Starkniederschlägen dazu, dass Wasser nicht schnell genug versickert oder über die Kanalisation abgeführt wird – mit der Folge, dass Strassen, Plätze und die Fundamente oder Keller von Gebäuden überflutet werden. Da intensive lokale Regenfälle durch den Klimawandel häufiger und heftiger werden und immer mehr Flächen versiegelt sind, steigt die Gefahr für solche Überflutungen. Dieses Risiko werde oft unterschätzt, schreibt das Bafu.
Laut dem Hydrologen Weingartner sollte der Bund vor allem private Hauseigentümer stärker in die Pflicht nehmen. In blauen Zonen (mittlere Gefahr) sind Objektschutzmassnahmen heute nur für Neubauten vorgeschrieben, etwa die Erhöhung des Siedlungsplatzes, der Bau von Mauern, die Abdichtung von Lichtschächten und Aussenwänden. Bestehende Häuser jedoch bleiben ungeschützt. «Will man die Risiken nachhaltig vermindern, muss sich das ändern», sagt der Wissenschafter.
Er geht noch einen Schritt weiter: Nehmen die Hochwasser im Zuge des Klimawandels zu, müssten zusätzlich auch Schutzmassnahmen für die stark überbaute gelbe Zone (geringe Gefahr) vorgeschrieben werden, was heute nicht der Fall ist. Von einer solchen Regelung betroffen wären zum Beispiel weite Teile der Zürcher Innenstadt. «Bereits wenn das Wasser um einen halben Meter steigt, sind die Schäden dort immens», betont Weingartner. Dagegen gelte es vorzusorgen.
Und noch eine Herausforderung dürfte der fortschreitende Klimawandel mit sich bringen. Der Klimarisikenbericht des Bafu spricht von der Gefahr komplexer Extremereignisse, die entstehen, wenn mehrere Extremereignisse zusammenkommen. Ein Beispiel ist intensiver Starkregen nach einer extremen Trockenperiode. Der trockene Boden kann dann das Wasser nicht aufnehmen, und Hochwasser werden verstärkt. Durch die Verkettung mehrerer seltener Ereignisse könne es zu Naturgefahren kommen, die bis jetzt in der Schweiz selten oder nie vorgekommen seien, schreibt das Bafu.
«Der Bergsturz in Blatten ist eine Aufforderung, die Frage zu stellen, wie sich das Gefahrenpotenzial verschiebt und welche zusätzlichen Massnahmen wir ergreifen müssen», sagt der Hydrologe Weingartner. Es gehe allerdings nicht in erster Linie um extreme Einzelfälle, sondern um Ereignisse, die sich wiederholt zeigten und immer häufiger aufträten.
Der Wissenschafter weist auf die grosse Überschwemmung von 1868 hin, die in verschiedenen Landesteilen eine Spur der Zerstörung hierliess. Daraufhin habe die Schweiz das erste Wasserbaugesetz eingeführt und damit den Hochwasserschutz auf eine solide Basis gestellt. Nach den Hochwassern von 1987, 1999 und 2005 wiederum habe man nicht nur die Gefahrenkarten als raumplanerisches Element eingeführt, sondern auch ein Risikomanagement aufgegleist, Frühwarnsysteme installiert und weitere Millionen in bauliche Massnahmen investiert. «Nun braucht es wieder einen solchen Effort.»
nzz.ch