Sternstunden der Diplomatie: Wie die Schweiz zwischen Ost- und Westmächten vermittelte


Gelegentlich erscheint die Gegenwart wie ein Hohn auf die Geschichte. Im Dezember 1994 unterzeichneten in Budapest 53 Länder aus Ost und West eine Erklärung mit dem Titel «Der Weg zu echter Partnerschaft in einem neuen Zeitalter». Die europäischen Staaten, Russland, die zentralasiatischen Republiken sowie die USA und Kanada versicherten sich in diesem Dokument gemeinsamer Werte und bekräftigten ihren Willen, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zusammen anzugehen.
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In einer weiteren Vereinbarung, dem «Budapester Memorandum», sagte die Ukraine zu, den internationalen Atomwaffensperrvertrag zu unterzeichnen und auf all ihre Nuklearwaffen aus sowjetischen Beständen zu verzichten. Im Gegenzug bekräftigten Russland, die USA und das Vereinigte Königreich ihre Sicherheitsgarantien für die Ukraine und verpflichteten sich, ihre Souveränität und die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen zu achten.
Diese Beschlüsse wirken dreissig Jahre später zynisch. Sie wurden damals im Rahmen des Budapester Gipfels der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) gefasst. Die KSZE war im Kalten Krieg mit dem Ziel entstanden, in Europa ein geregeltes Miteinander zwischen West und Ost zu ermöglichen. 1973 kamen 35 Länder zu einer Konferenz in Helsinki zusammen, wo 1975 auch eine Schlussakte verabschiedet wurde. Darin einigten sich die Teilnehmer auf einen gemeinsamen Verhaltenskodex, dessen Einhaltung in mehreren Nachfolgekonferenzen überprüft wurde. Nach dem Ende des Kalten Kriegs wurde der Ost-West-Dialog unter neuem Namen weitergeführt: 1994, ebenfalls beim Gipfel in Budapest, wurde die KSZE in OSZE umbenannt, Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.
Aufmerksame BeobachterIn Budapest war auch die Schweiz vertreten, die zu den KSZE-Gründerstaaten gehörte. Ihre Diplomaten registrierten, dass sich der schönen Rede von der «echten Partnerschaft» zum Trotz auch starke Differenzen zeigten, insbesondere zwischen dem gefallenen Hegemon Russland und der verbliebenen Supermacht USA.
«Obwohl sich Russland am Rande einer politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise befindet», so der Schweizer Verhandlungsleiter, Botschafter Benedikt von Tscharner, «signalisierte Moskau in beinahe alter Manier Selbstvertrauen und Grossmachtbewusstsein.» Scharf habe Präsident Boris Jelzin die Pläne zur Erweiterung der Nato auf die Staaten Osteuropas kritisiert. Und er habe klargestellt, «dass europäische Sicherheitspolitik ohne tatsächliche Mitbestimmung Russlands nicht gemacht werden kann», berichtete der Schweizer Diplomat.
Gleichzeitig befinde sich auch der Westen «auf einer schwierigen Suche nach einem neuen Sinn der seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges entwickelten Strukturen der Integration und der Zusammenarbeit», so von Tscharner. Die Debatten um eine Osterweiterung von Nato und EU wirkten «gewissermassen als Kontrastmittel, das diese Unsicherheit noch deutlicher hervortreten lässt». Gewisse Sätze aus dem Bericht klingen heute noch nach: «Besonders schwer vorauszusagen sind dabei die Zukunft der amerikanischen Präsenz in Europa und das Fortschreiten der EU zu echter Handlungsfähigkeit.»
Der Botschafter von Tscharner war in Budapest ein aufmerksamer Beobachter, auch weil er wusste, dass sein Land bei der Aufgabe, die beschworene Sicherheitspartnerschaft mit Inhalt zu füllen, «an prominenter Stelle mithelfen» würde. Am Budapester Gipfeltreffen wurde nämlich die Schweizer Kandidatur für den OSZE-Vorsitz im Jahr 1996 angenommen. Dies markierte einen Höhepunkt im Engagement der Schweiz für eine der herausragendsten Errungenschaften der europäischen Diplomatie im Kalten Krieg.
Ein Regelwerk für ganz EuropaDie KSZE war ein Kind der sogenannten Entspannungspolitik: Nach einer Phase der Konfrontation öffnete sich in den späten 1960er und 1970er Jahren ein Fenster des Ost-West-Dialogs. 1969 schlugen die Staaten des Warschauer Pakts vor, eine gesamteuropäische Sicherheitskonferenz einzuberufen. Die Sowjetunion erhoffte sich davon eine Absicherung des Status quo in Europa, die ihre Dominanz über die osteuropäischen Vasallenstaaten zementieren sollte. Westeuropa liess sich darauf ein – unter einem Vorbehalt: Auch die USA und Kanada, die mit ihrer Militärpräsenz auf dem Kontinent ein Gegengewicht zur UdSSR bildeten, sässen mit am Tisch. Zudem beharrte der Westen darauf, neben der sicherheitspolitischen und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit auch über Menschenrechtsfragen zu verhandeln.
Nach mehreren Vorbereitungstreffen fand im Juli 1973 in Helsinki die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa statt. Nebst den Staaten des Warschauer Pakts und der Nato nahmen auch diverse neutrale Länder teil, darunter die Schweiz. Zwei Jahre später, am 1. August 1975, wurde die KSZE-Schlussakte unterschrieben. Sie war kein konventionelles Abkommen, sondern eine Einigung zwischen Ost und West auf gemeinsame Werte, die «Prinzipien von Helsinki». Die Staaten bekannten sich nicht nur zur Unverletzlichkeit der Grenzen oder zur friedlichen Regelung von Streitfällen, sondern auch zur Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie zur Zusammenarbeit in Wirtschaft, Wissenschaft und Umwelt. Die Schlussakte von Helsinki ist bis heute das einzige wirklich gesamteuropäische politische Regelwerk – neben der global gültigen Uno-Charta.
Die Verhandlungen über die Schlussakte wurden 1973 bis 1975 in Genf geführt. Die Schweiz, weder Mitglied der Uno noch der Europäischen Gemeinschaft, erlebte hier Sternstunden ihrer Diplomatie und verteidigte erstmals nicht nur Wirtschaftsinteressen, sondern bezog Position in grundpolitischen Fragen wie der Durchsetzung der Menschenrechte.
Den kleinen Staaten kam entgegen, dass jegliche Beschlussfassung in der KSZE von der Zustimmung sämtlicher Teilnehmer abhing. Im Verbund mit den Delegationen der neutralen Partner Österreich, Schweden und Finnland sowie mit dem blockfreien Jugoslawien gelang es der schweizerischen Diplomatie mit Pragmatismus und Vermittlungskompetenz, Stillstände in den Diskussionen zwischen den Blöcken zu lösen. Voraussetzung für den Erfolg der KSZE war allerdings immer ein gemeinsames Interesse der Supermächte USA und UdSSR an der Verständigung.
Vermeintliche «Ära der Zusammenarbeit»Bereits Ende der 1970er Jahre begannen sich die Gegensätze zwischen Ost und West erneut zu regen. Unter anderem verhärteten die sowjetische Intervention in Afghanistan und der Nato-Doppelbeschluss die Fronten – 1979 kündigte die Nato einerseits an, eigene Mittelstrecken-Atomraketen in Europa zu stationieren, andererseits forderte sie Verhandlungen mit der Sowjetunion, um eine weitere Aufrüstung zu verhindern. Gleichwohl blieb die KSZE als gesamteuropäisches Forum bestehen. Die beteiligten Staaten hielten nach Helsinki auf Folgekonferenzen in Belgrad, Madrid und Wien den Dialog über sicherheits- und militärpolitische Themen, über wirtschaftlichen Austausch sowie über Menschenrechtsfragen aufrecht.
Die Schweiz leistete Vermittlungsdienste zusammen mit den neutralen und blockfreien Staaten Europas, brachte sich aber auch mit eigenen Initiativen ein. So organisierte sie mehrere Treffen zum Thema der friedlichen Streitbeilegung, die 1992 in die Gründung eines KSZE-Schlichtungs- und -Schiedsgerichtshofs in Genf mündeten. In Bern führte sie 1986 ein Seminar durch, in dem es darum ging, Familienzusammenführungen und Eheschliessungen über den Eisernen Vorhang hinweg zu erleichtern.
Mit der KSZE konnten sich die Menschenrechte als Thema der europäischen Diplomatie etablieren. Die wachsende Zahl Dissidentinnen und Dissidenten in den Ostblockstaaten konnte sich in ihrem Protest auf die Prinzipien von Helsinki berufen, zu denen sich ihre Regierungen 1975 bekannt hatten. Matchentscheidend war er nicht, doch der KSZE-Prozess leistete so einen Beitrag zum Zerfall der Unrechtsregime in Osteuropa.
Dieser vollzog sich dann sehr schnell. 1989 fanden in Polen und Ungarn freie Wahlen statt, in Berlin fiel die Mauer zwischen DDR und BRD. In der Tschechoslowakei verdrängte die «samtene Revolution» die Kommunisten von der Macht, Bulgariens und Rumäniens Diktaturen wurden gestürzt. In der KSZE wurden die «Ergebnisse der Wende» festgeschrieben: In einer Reihe von Konferenzen bekannten sich die Mitgliedstaaten zu marktwirtschaftlichen Prinzipien, definierten weitgehende Regeln über pluralistische Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, freie Wahlen und die Achtung der Menschenrechte. Und sie diskutierten die Problematik nationaler Minderheiten.
Am Pariser KSZE-Sondergipfel vom November 1990, den der sowjetische Reformpräsident Michail Gorbatschow mit Unterstützung der USA initiiert hatte, schien der Kalte Krieg schliesslich überwunden. Die von den Staats- und Regierungschefs unterzeichnete «Charta von Paris für ein neues Europa» läutete nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ein «Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit» ein. «Was die Völker jahrzehntelang herbeiwünschten, beginnt», meinte auch der Schweizer Bundespräsident Arnold Koller in seiner Pariser Rede: «eine Ära der Zusammenarbeit zwischen Ost und West, mit dem Ziel, ein neues, geeintes Europa zu errichten».
Doch die Ernüchterung folgte bald. Der ehemals sozialistische Vielvölkerstaat Jugoslawien, ebenfalls im Umbruch begriffen, begann 1991 in einer Kaskade von Kriegen zu zerbrechen. Die KSZE hatte keinerlei Instrumente, um hier einzugreifen. Auch die zunächst friedliche Auflösung der UdSSR verlief keineswegs konfliktfrei. Das hatte mit den schwierigen Voraussetzungen in den sowjetischen Nachfolgestaaten zu tun, die auf ihre Unabhängigkeit nicht vorbereitet waren. Es hing aber auch damit zusammen, dass Russland von Anfang an wenig Interesse daran zeigte, die Souveränität seiner neuen Nachbarn zu respektieren.
Besuch aus RusslandMoskau zählte das «nähere Ausland» zu seiner exklusiven Einflusssphäre, das wurde rasch klar. So behielt die zerfallende Grossmacht bis 1993 beziehungsweise 1994 Truppen in Estland, Lettland und Litauen stationiert – auch, um Druck auf deren Politik gegenüber den russischen Minderheiten auszuüben, die in den baltischen Staaten teilweise sehr zahlreich waren. Durch die russische Unterstützung der separatistischen Bewegungen in Nagorni Karabach, Südossetien und Abchasien wurden Aserbaidschan und Georgien von Beginn weg an der vollständigen Kontrolle ihres Territoriums gehindert.
Wie im Südkaukasus stationierte Russland auch im zentralasiatischen Tadschikistan sogenannte Friedenstruppen, mit denen es nicht nur Stabilität im Konfliktgebiet gewährleistete, sondern sich auch einen weitgehenden Einfluss auf die lokale Politik sicherte. Auch wirtschaftlich setzte Moskau seine Nachbarstaaten unter Druck, um politische Ziele zu erreichen – die Ukraine etwa mit der Lieferung verbilligter Energie, die von Konzessionen bezüglich des Status der Krim und der Aufteilung der Schwarzmeerflotte abhängig gemacht wurde.
Russlands Anspruch, in seinem ehemaligen Herrschaftsbereich als Ordnungsmacht aufzutreten, wurde schon damals eingehend problematisiert, auch in der Schweiz. So etwa anlässlich eines Besuchs des russischen Verteidigungsministers Pawel Gratschow beim Vorsteher des Eidgenössischen Militärdepartements, Bundesrat Kaspar Villiger, im November 1993.
Beide Staatsmänner betonten, dass die KSZE gestärkt werden müsse, damit sie drohende Konflikte rechtzeitig mit politischen Mitteln verhindern könne – jenseits dieser Überzeugung divergierten die Vorstellungen allerdings erheblich. Der russische Verteidigungsminister – «von der Weltmachtrolle Russlands überzeugt» – bekannte freimütig, «dass er sich den Einsatz von militärischer Gewalt im ‹grenznahen Ausland› zur ‹Prävention› von Konflikten durchaus vorstellen» könne, auch ohne Mandat der Uno oder der KSZE. «Meines Erachtens lassen die Ausführungen Gratschows zu diesem Thema wenig Zweifel offen, dass Russland nach wie vor an einer Stabilisierungspolitik mit hegemonialem Hintergrund festhält und diese wenn möglich als Friedenssicherung erscheinen lassen möchte», notierte Bundesrat Villiger.
«Russland hat im benachbarten Ausland berechtigte Sicherheitsinteressen», hielt damals das Schweizer Aussendepartement (EDA) in einem Positionspapier fest. «Diese Feststellung gilt aber in noch höherem Ausmass auch in umgekehrter Richtung: Das sicherheitspolitische Interesse eines Staates wie zum Beispiel Estlands oder der Ukraine gegenüber Russland ist aus naheliegenden Gründen ungleich grösser, als dies in umgekehrter Richtung der Fall ist» – zumal die Demokratie in Russland noch keineswegs gefestigt sei.
Als neutraler Kleinstaat, so das EDA, habe die Schweiz eine «besondere Verantwortung, die Anliegen derjenigen Staaten zu berücksichtigen, welche als Spielball der Grossmächte missbraucht werden könnten». Bern brachte folglich grosses Verständnis für die Befürchtungen auf, die Russlands Nachbarn hegten: Der Westen könnte, um sich nicht selbst in postsowjetischen Konflikten engagieren zu müssen, die Stellung Moskaus als Hegemonialmacht nicht nur tolerieren, sondern eine russische Militärpräsenz sogar unter dem Etikett eines KSZE-Peacekeeping mitfinanzieren.
Schwierige PräsidentschaftenDie Schweiz bemühte sich deshalb in dieser Umbruchszeit redlich, mit den beschränkten Mitteln multilateraler Diplomatie dazu beizutragen, Auseinandersetzungen in Osteuropa beizulegen oder zu vermeiden. Sie beteiligte sich schon 1991 an diplomatischen Aufklärungsmissionen im ehemaligen Jugoslawien und sandte ab 1992 Militärbeobachter in das Konfliktgebiet. Der Bundesrat beschloss 1993 die schweizerische Beteiligung an einer Peacekeeping-Operation in Nagorni Karabach, und er stellte dem Uno-Generalsekretär den Spitzendiplomaten Edouard Brunner als Sonderbeauftragten für Georgien zur Verfügung.
Konsequenterweise bot sich die Schweiz auch an, 1996 den Vorsitz der OSZE zu übernehmen. Das tat sie freilich im Bewusstsein, dass die «Gestaltungsmöglichkeiten und Erfolgschancen» der schweizerischen Präsidentschaft beschränkt bleiben und ihre Aktionsfähigkeit von den Interessen der Hauptakteure, namentlich Russlands und der Nato-Staaten, abhängen würde.
Letztlich waren es vor allem die Nachkriegsordnung und der Wiederaufbau in Bosnien-Herzegowina, die Bundesrat Flavio Cotti als Vorsitzenden der OSZE im Jahr 1996 beschäftigten. Aber auch die Entwicklungen in Russland und insbesondere der Krieg in der Kaukasusrepublik Tschetschenien hielten die OSZE damals in Atem.
Ein zweites Mal nach 1996 übernahm die Schweiz den Vorsitz 2014, in einem Schlüsseljahr der Ost-West-Beziehungen, als russische Streitkräfte die Halbinsel Krim annektierten und Moskau in der Ostukraine unter Einschleusung von Truppen einen Sezessionskrieg anzettelte. Die OSZE vermittelte damals in Minsk unter Federführung der Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini einen brüchigen Waffenstillstand. Mit der russischen Invasion vom 24. Februar 2022 wurde er vollends zur Makulatur.
Zurück zum Budapester Gipfel von 1994, als Botschafter Benedikt von Tscharner angesichts der neuerlich divergierenden Interessen in Ost und West über die bedeutendste Aufgabe der KSZE in der Zukunft sinnierte. Eine gesamteuropäische Sicherheitskooperation müsse primär Russland die «Angst vor der Isolierung» nehmen. «Damit wird sie nur Erfolg haben», so von Tscharner, «wenn es ihr gelingt, Moskau eine europäische Heimstatt, nicht aber eine verbriefte Sonderrolle zu gewähren.» Auch dieses Zitat wirkt heute, da jene wohltemperierte Strategie offensichtlich gescheitert ist, fast hämisch.
Seit vergangenem Dezember ist klar, dass die Schweiz im Jahr 2026 zum dritten Mal die OSZE präsidieren wird. Die Herausforderungen erscheinen, verglichen mit der Präsidentschaft von 1996, unermesslich viel grösser.
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»
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