Vom Meisterwerk der Evolution zur Problemzone: Rückenschmerzen sind allgegenwärtig – aber selten eindeutig erklärbar


Illustraton Dario Veréb / NZZaS
Vor mehr als 500 Millionen Jahren hatte die Evolution eine ihrer genialsten Ideen: Sie stattete unsere damals noch ziemlich unförmigen Vorfahren mit einem stabartigen Stützapparat aus, den Zoologen heute als «chorda dorsalis» bezeichnen. Der elastische Gewebestrang diente den Muskeln als Widerlager und ermöglichte seinen nun schon etwas mehr an Fische erinnernden Besitzern eine wesentlich effizientere Fortbewegung durch das Urmeer.
NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.
Bitte passen Sie die Einstellungen an.
Später wurde dieser noch etwas wackelige Stützstab dann von der Wirbelsäule der Knochenfische ersetzt. Der Rumpf wurde dadurch so stabil, dass es einem Spross dieser Gruppe hundert Millionen Jahre später gelang, die Schwerelosigkeit des Wasserlebens aufzugeben und das Land zu erobern.
Der Rest ist Naturgeschichte: Heute gibt es rund 50 000 Arten von Wirbeltieren, von der winzigen Hummelfledermaus bis zum Blauwal. Und alle zeigen Rückgrat.
So auch der Mensch. Der aufrechte Gang wäre unmöglich ohne unsere stabile Wirbelsäule und das komplexe Geflecht aus Muskeln und Bändern, das sie umgibt. Und doch ist unsere grösste Stütze auch Ursprung grossen Leids: Rückenschmerzen.
Ob beim Gärtnern oder wenn wir das eigentlich schon zu grosse Kind noch einmal auf die Schulter wuchten wollen: Früher oder später fährt es fast jedem von uns in den Rücken. In Industriestaaten leiden gemäss Studien mehr als 80 Prozent der Menschen mindestens einmal im Leben an Rückenschmerzen, die sie zum Arzt gehen lassen. Und in der schweizerischen Gesundheitsbefragung 2022 gab fast die Hälfte der Teilnehmer an, in den letzten vier Wochen unter Schmerzen im Kreuz, im Rücken oder im Nacken gelitten zu haben.
Rückenschmerzen hat fast jeder einmalRückenbeschwerden gehören hierzulande zu den häufigsten Gründen für Arztbesuche und Krankschreibungen und erzeugen gesellschaftliche Folgekosten in Milliardenhöhe. Entsprechend gross ist das Angebot für manchmal eher fragwürdige Therapien.
Was für die meisten Menschen unangenehme, aber vorübergehende Schmerzepisoden sind, wird für andere zum chronischen Leiden. Dabei gelten rund 90 Prozent aller akuten und chronischen Rückenbeschwerden als «unspezifisch»: Sie haben keinen klar erkennbaren Grund. Viel seltener sind Rückenschmerzen, die sich mit einiger Sicherheit auf Schäden an der Wirbelsäule oder den Bandscheiben zurückführen lassen. Dann stellt sich die Frage, ob eine Operation helfen kann oder alles nur noch schlimmer macht.
Die meiste Zeit leistet unser Rückgrat aber ganz klaglos Schwerstarbeit: Mehrere hundert Kilo Last und trotzdem beweglich bleiben? Für einen gesunden Rücken ist das kein Problem. Wie schafft er das nur?
Unsere S-förmig gebogene Wirbelsäule besteht aus 24 beweglichen Wirbeln: 7 Halswirbel, 12 Brustwirbel und 5 besonders kräftig gebaute Lendenwirbel. Die 5 Kreuzwirbel darunter verwachsen in der Jugend zum kompakten Kreuzbein. Den Abschluss nach unten macht das ebenfalls aus verwachsenen Wirbeln bestehende Steissbein, das evolutionäre Überbleibsel eines Schwanzes.
Zwischen den knöchernen Wirbeln liegen die Bandscheiben, knorpelige Strukturen, die wie Stossdämpfer wirken und der Wirbelsäule ihre Beweglichkeit verleihen. Sie bestehen aus einem äusseren, sehr stabilen Faserring und einem Kern aus Gallerte, der bei Erwachsenen die Konsistenz von Hüttenkäse annimmt.
In Form und Bewegung gehalten wird diese Konstruktion von einer Vielzahl von Muskeln und Bändern. Diese Kombination ist normalerweise hart im Nehmen, hält uns in allen Lebenslagen aufrecht und ermöglicht Akrobaten und Sportlern Höchstleistungen.
Die Wurzel des Übels: unsere Entwicklung zur Couch-PotatoWas unserem Rücken jedoch zu schaffen macht, ist unser moderner Lebensstil. Statt wie die meisten unserer Vorfahren den ganzen Tag aktiv zu sein, verbringen wir heute den Grossteil davon vor Bildschirmen oder auf dem Sofa.
Das sei noch vor wenigen Generationen ganz anders gewesen, sagt Marcus Schiltenwolf, der am Universitätsspital Heidelberg den Bereich konservative Orthopädie und Schmerztherapie leitet. «Vor hundert Jahren litten viele Menschen noch unter einer übermässigen körperlichen Beanspruchung. Damals wurde eben nicht nur acht Stunden am Tag gearbeitet, sondern zehn bis zwölf Stunden.»
Die aufreibende Schwerstarbeit auf dem Acker oder in Fabriken war dem Rücken sicher nicht zuträglich. Doch inzwischen sei das Pendel in das andere Extrem geschwungen, so Schiltenwolf: acht Stunden Bildschirmarbeit im Sitzen, darauf folgen 16 Stunden für Schlaf und Freizeit. «Davon bewegt sich der Durchschnittsbürger vielleicht eine halbe Stunde aktiv, also kreislauffordernd – wenn überhaupt.»
Zum passiven Lebensstil geselle sich in unserer Wohlstandsgesellschaft eine um Jahrzehnte verlängerte Lebensspanne. Und schliesslich leide der moderne Mensch vermehrt unter psychosozialem Stress, sagt Schiltenwolf. «Und Stress führt immer zu einer erhöhten Muskelaktivität – allerdings im Sinne von An- und Verspannung anstatt förderlicher Bewegung.»
Solche Verspannungen, also Verhärtungen des Muskels durch einen zu hohen Muskeltonus oder infolge von Zerrungen der überlasteten Rückenmuskulatur, gelten als direkter Entstehungsmechanismus für alltägliche Rückenschmerzen. Die Anspannung drücke die kleinen Blutgefässe des Muskels ab, der dadurch schlechter mit Sauerstoff versorgt werde. Das führe zu einem Teufelskreis weiterer Anspannung und Schmerzen, so das gängige Erklärungsmuster, aber so ganz genau weiss es eben keiner.
Akute Rückenschmerzen vergehen fast immer von alleinWas hilft gegen diese oft plötzlich auftretenden unspezifischen Rückenschmerzen, die für so viele Menschen zum Alltag gehören? Die gute Nachricht zuerst: «In rund neun von zehn Fällen vergehen die Schmerzen ganz von allein innert sechs Wochen», sagt Sandra Deicke, Physiotherapeutin mit Spezialisierung für komplexe Rückenbeschwerden aus Affoltern am Albis.
Doch was tun, wenn die Schmerzen länger anhalten oder gar chronisch werden? Oft kämen Rückenschmerz-Patienten mit der hohen Erwartung einer schnellen Linderung zu ihr, erzählt Deicke. Die erhofften Wunder seien kaum zu vollbringen. Wohl aber könne sie den Betroffenen zeigen, was sie selbst für eine Besserung tun können, und ihnen helfen, so gut es geht wieder in Bewegung zu kommen. Denn darin sind sich alle Experten einig: Die früher empfohlene Schonung oder gar Bettruhe machen die Sache nur noch schlimmer und verzögern die Genesung. Der wichtigste Schlüssel zur Besserung ist Bewegung.
Das bestätigt auch eine neue Übersichtsarbeit des renommierten Wissenschaftsnetzwerks Cochrane zu nichtoperativen Therapieansätzen für Kreuzschmerzen. Sie wertet 644 Einzelstudien zu 27 verschiedenen Therapien aus, an denen insgesamt fast 100 000 Menschen mit akuten oder chronischen Kreuzschmerzen teilgenommen hatten.
Den klarsten Nutzen zeigten verschiedene Bewegungstherapien bei chronischen Schmerzen. Dabei kommt es gemäss den Ergebnissen nicht so sehr darauf an, welche Form von Bewegungstherapie man macht. Ob Pilates oder Krafttraining, Yoga oder Nordic Walking: Hauptsache, man tut es.
Allerdings zeigt der Cochrane-Review auch: Selbst von mehr Bewegung sind keine grossen Wunder zu erwarten, die Effekte seien «klein bis mittel». Und für viele andere Angebote auf dem sehr umfangreichen Markt für Rückenschmerz-Therapien sieht die wissenschaftliche Evidenz noch viel dürftiger aus. Sie zeigen entweder nur geringe Effekte, oder die Studien sind mit derart grossen methodischen Schwächen behaftet, dass sich daraus wenig Belastbares ableiten lässt.
Bei Schmerz stösst die evidenzbasierte Medizin an GrenzenDiese Ergebnisse machen Schmerzgeplagten nicht gerade Mut. Doch Katharina Zachariassen, Oberärztin an der Klinik für Rheumatologie des Unispitals Zürich, lässt sie nur bedingt gelten: Die Ergebnisse von Studien seien oft nur eingeschränkt auf den einzelnen Patienten übertragbar. «Wenn wir eine Studie mit jungen Sportlern machen und eine mit Rentnern, dann kommen ganz andere Ergebnisse heraus. Rückenschmerz ist eben nicht gleich Rückenschmerz – jeder Patient ist individuell.» Und so individuell müsse auch die Behandlung sein.
Basis dafür sei das Gespräch mit dem Patienten über die Hintergründe seines Leidens und seines Lebens, so Zachariassen. Anhand dieser Krankengeschichte und der klinischen Untersuchung versuche sie dann, eine möglichst genaue Diagnose zu stellen und daraus ein individuelles Therapieangebot abzuleiten.
Dafür gibt es durchaus eine Vielzahl von Optionen, von Physiotherapie über Schmerzmittel und örtlichen Injektionen mit Kortison bis zu komplementärmedizinschen Ansätzen wie Akupunktur. Das Angebot sei da so breit wie die Nachfrage der vielen Betroffenen, so Zachariassen. Und wenn ein Patient etwas «Alternatives» ausprobieren wolle, habe sie damit kein Problem, solange er sich danach besser fühle.
Illustraton Dario Veréb / NZZaS
Für Menschen mit starken, länger andauernden Schmerzen werden seit einigen Jahren sogenannte multimodale Schmerztherapien hoch gehandelt. Sie verbinden insbesondere ein individuelles physiotherapeutisches Trainingsprogramm mit einer psychologischen Betreuung des Patienten. Denn auch der Psyche wird heute eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Schmerzen und dem Umgang damit zugesprochen. Dass diese intensiven, meist stationär über Wochen verlaufenden Programme recht gute Ergebnisse erzielen, bestätigt auch die sonst ernüchternde Übersichtsarbeit von Cochrane.
Zunächst müssen in der Diagnose aber viele mögliche Ursachen bedacht werden. Beginnt der Schmerz etwa nach einem Unfall, oder gibt es Lähmungen oder Taubheitsgefühle, so läuten die Alarmglocken. Auch die Kombination von Rückenschmerz mit Fieber oder Gewichtsverlust erfordert eine genaue Abklärung.
In der Schmerzmedizin ist die korrekte Diagnose oft DetektivarbeitDoch all dies ist selten im Vergleich zu «alltäglichen» Rückenschmerzen. Bei einem typischen Patienten mit unspezifischen Schmerzen bewege man sich in einer Grauzone, so Zachariassen. Denn für eine kausale Therapie fehle definitionsgemäss etwas Entscheidendes: ein klarer Auslöser der Schmerzen. Diesen einzukreisen, sei wahre Detektivarbeit. Oft seien überlappende Probleme in Gelenken, Sehnen und Muskeln die wahrscheinlichsten Ursachen der Schmerzen.
Dabei müsse man sich auch gut überlegen, inwieweit eine Bildgebung der Wirbelsäule, etwa mit einem MRT-Gerät, sinnvoll sei. Die Gefahr dabei: In den Bildern finden sich fast immer Abnutzungserscheinungen der Wirbelsäule. Doch Studien zeigen deutlich: Die gleichen Veränderungen haben auch völlig beschwerdefreie Vergleichspersonen. «Schon bei 30-Jährigen sehen wir bei jedem Dritten oder Vierten Hinweise auf Bandscheibenvorfälle, bei den 60-Jährigen ist es dann schon jeder Zweite. Wenn so ein Befund mit Rückenschmerzen einhergeht, heisst das aber noch lange nicht, dass es da eine kausale Verbindung gibt», sagt Zachariassen.
Ist solch ein Zufallsbefund aber erst einmal auf dem Tisch, verursacht er Ängste. Sowohl Arzt als auch Patient überinterpretieren ihn dann leicht als die wahre Ursache der Schmerzen. Und das kann zu vorschnellen Operationen führen. Davon haben Wirbelsäulen-Chirurgen etliche auf Lager: Einen durch Bandscheibenknorpel oder Knochen verengten Rückenmarkskanal können sie freilegen, für unrettbar verschlissene Bandscheiben eine Prothese einsetzen oder ganze Abschnitte der Wirbelsäule mit Stahlstäben versteifen.
Im besten Fall geht es den Patienten danach deutlich besser. Doch auch das Risiko, alles nur noch zu verschlimmern, ist hoch. Deswegen gilt für Rücken-OPs eigentlich die Maxime: So zurückhaltend wie möglich und nur bei eindeutiger Indikation operieren. Tatsächlich wird nach Meinung vieler Kritiker in der Schweiz wie auch in Deutschland aber viel zu oft am Rücken operiert, ohne zuvor alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft zu haben.
Das habe sich inzwischen allerdings auch unter Chirurgen herumgesprochen, meint Ladislav Mica, Wirbelsäulenchirurg und Leitender Arzt an der Klinik für Traumatologie am Unispital Zürich. «Die Vermeidung einer Operation ist für uns heute das höchste Ziel.»
Das Zusammenspiel der Disziplinen kommt zu besseren ErgebnissenDiesem Ziel diene auch die enge Zusammenarbeit am Wirbelsäulenzentrum des Unispitals Zürich, in dem Fachleute der Kliniken für Rheumatologie, der Traumatologie und der Neurochirurgie zusammenarbeiten, erklärt Nicolai Maldaner, Oberarzt der Neurochirurgie: «Dass ein Arzt allein auf der weiten Wiese alles entscheidet, ist sicherlich ein Auslaufmodell. Der Trend geht überall in Richtung Interdisziplinarität und einer stärkeren Einbeziehung des Patienten.» Im Zusammenspiel dieser unterschiedlichen Perspektiven sei die Chance am besten, die wahren Gründe der Schmerzen aufzudecken.
Wenn sich dabei eine Operation als beste Option herauskristallisiert, ist die Chance gross, dass sie den gewünschten Effekt zeigt. Ist eine Bandscheibe beispielsweise so stark vorgewölbt, dass sie auf das Rückenmark oder einen davon abgehenden Nerv drückt, kann eine Dekompression, also das Abtragen des knorpeligen Gewebes, durchaus die Rettung vor bleibenden Schäden und Schmerzen sein.
Am besten wäre es natürlich, wenn es erst gar nicht so weit kommt. Dabei würde helfen, schon in jungen Jahren etwas mehr Rücksicht auf seinen Rücken zu nehmen und ihn nicht auf der Couch verkümmern zu lassen. Aber solange ein Körperteil klaglos seinen Dienst tut, neigen wir halt dazu, dies für selbstverständlich zu halten.
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»
nzz.ch