Die Materialien der Vorstellungskraft

Die Veröffentlichung von La piedra blanda (Random House) von Rodrigo Cortés und Tomás Hijo ist ein Ereignis, weil es exemplarisch zeigt, dass Erzählungen nicht nur aus Geschichten und Ideen bestehen: Sie werden auch von Materialien geprägt. Beim Lesen dieses merkwürdigen Comics über das wundersame Leben von Pedro de Poco in einem halluzinierten Mittelalter, in dem die Tafeln nicht wie in einem typischen Architekturspiel wie bei einem Tetris-Spiel zusammenpassen, sondern über das Weiß der Seite schweben, spürt man mit den Fingern die Dicke der Seite und nimmt mit den Augen eine andere Dicke wahr, die der Schwarzweißzeichnung. Denn jede dieser Tafeln wurde mit zwei Rillen bearbeitet, eine einen Millimeter dick, die andere fünf Millimeter; vor dem Drucken war es eine Gravur.
Ein Bücherregal in der Nationalbibliothek
Alejandro Martínez Vélez – Europa Press / Europa PressIn Parallel Minds: Discovering the Intelligence of Materials (Caja Negra) betont die Biotechnologieforscherin Laura Tripaldi diesen zentralen Aspekt komplexer Materialien: „Ihre Struktur kann eine gewisse Menge an Informationen enthalten, die nicht von außen kommen, sondern in den Beziehungen zwischen den mikroskopischen Elementen, aus denen sie besteht, festgeschrieben sind.“ Dies lässt sich auf die Komposition eines Kunstwerks übertragen, da auch diese durch die „kooperative und relationale“ Natur ihrer Elemente konstruiert wird, „die sich in einer breiten, dezentralen Struktur ausdrückt und dem Material Eigenschaften verleiht, die seine einzelnen Teile nicht besitzen.“
Bücher bestehen aus Geschichten, Ideen und Materialien und wir Leser sind Körper und Geist.So funktionieren Text und Zeichnung, die in La piedra blanda mit großer Originalität von Hand eingraviert und angeordnet sind. Oder der gezeichnete und gestickte Comic El cuerpo de Cristo (Astiberri) von Bea Lema. Oder die literarischen und grafischen Essays von Frédéric Pajak in den Bänden seines Manifiesto incierto (Errata Naturae). Unter anderen meisterhaften Beispielen der Hybridisierung von Text und Bild mit Betonung ihrer Materialität. Die Neuauflage von La casa de hojas (Duomo) von Mark Danielewski (übersetzt von Javier Calvo und layoutet von Robert Juan-Cantavella) erinnert uns daran, dass die Literatur des 21. Jahrhunderts mit diesem gestalteten Roman neu begonnen hat, in dem Typografie, Kalligramm und Collage ebenso viel bedeuten wie die Geschichte des übernatürlichen Hauses oder die des verfluchten Buches.
Lesen Sie auchDoch die Materialien von Fiktion und Dokumentation sind nicht immer visuell oder physisch; manchmal sind es Codes oder Texturen. Danielewski nutzt filmische Sprache oder Fußnoten, um seinen Roman zu gestalten; Pajak Philosophie; Lema Autobiografie und Bekenntnis; Cortés e Hijo Hagiografie und Legende. Bücher – wie Filme, Podcasts, Ausstellungen oder Performances – bestehen aus Geschichten, Ideen und Materialien. Wie wir, ihre Leser, Körper und Geist, sollten wir nicht nach Vereinfachungen suchen, sondern nach möglichen Reflexionen unserer eigenen Komplexität.
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