Lob der Ungewissheit
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Am frühen Abend gehe ich die ruhige Landstraße entlang, das nahe Geräusch meiner Schuhsohlen auf der Straße, das tief stehende orangefarbene Sonnenlicht auf Kühen, Büschen, Butterblumen, die Luft noch warm nach dem warmen Frühlingstag, aber während ich weitergehe, wird es manchmal plötzlich wieder kalt, wenn eine grüne, feuchte Kühle aus dem Gras und den Büschen aufzusteigen scheint. Es ist wie wenn man im Meer schwimmt, denke ich, manchmal herrlich im lauwarmen Wasser und dann schwimmt man plötzlich in so eine Kühle. Zweifellos lässt sich das im Großen erklären, in jenen Schichten unterschiedlicher Temperaturen, die manchmal nicht sauber horizontal liegen, und vielleicht ist das genauso, wie die grüne Kühle mal von den Straßenrändern und Wiesen aufsteigt und mal nicht. Doch wer könnte Ihnen sagen, geschweige denn vorhersagen, wo und wann genau diese Abkühlungen und Erwärmungen eintreten werden? Im Großen lässt sich vieles erklären und modellieren, im Kleinen jedoch nicht. Jeder Grashalm durchläuft unzählige Ursachen und Wirkungen, zu viele, um sie jemals nachzuverfolgen. Unter der warmen Decke aus Ursachen und Wirkungen herrscht Chaos.
Es ist für mich immer ein angenehmes Gefühl, dass für uns Menschen so vieles unsichtbar und unerkennbar ist. Es gibt Phänomene, die uns nicht auffallen, den Tieren jedoch schon, aber auch sie sehen nicht alles.
Unsicherheit hat keinen guten Namen. Wir wollen Dinge wissen, verstehen, am liebsten vorhersagen können und tun auch gerne so, als ob wir das könnten – man denke nur an das vielbenutzte Wort „zukunftssicher“. Als ob wir wüssten, wie diese Zukunft aussieht. Natürlich haben wir eine Vorstellung, aber wir wissen nur bis zu einem gewissen Grad, wie es weitergehen wird, egal wie sehr wir uns das Gegenteil einreden möchten, um eine gewisse Sicherheit zu haben.
Allerdings sind dem Sicherheitsbedürfnis auch Grenzen gesetzt. Ich frage manchmal einen guten Freund, Sie stellen manchmal sinnlose Fragen, nur um gemeinsam über Ihre Sicht auf das Leben nachdenken zu können: Wenn Sie wissen könnten, wann Sie sterben, würden Sie das wollen?
Die Antwort lautet nach allen möglichen Überlegungen (und genau diese machen den Spaß an der Unterhaltung aus, aber ich werde sie jetzt überspringen) immer: Nein. Interessant ist, dass sich die meisten Menschen nach Sicherheit sehnen, dies aber offenbar – und das leite ich nicht nur aus diesem einen traurigen Beispiel ab – ein gewisses Maß an Unsicherheit erfordert. Nur wenige Menschen mögen absoluten Determinismus. Das heißt, es ist, als Theorie betrachtet, beruhigend zu denken, dass alles aus Ursachen und Wirkungen besteht, die verständlich sind, wenn man sich anstrengt und/oder ein brillanter Physiker ist. Aber fast niemand möchte, dass jede Aktion festgelegt wird, und es ist auch gar nicht anders möglich.
Ich glaube, dass jede Handlung nicht anders sein kann, als sie ist, das heißt: im Nachhinein. Rückblickend hätte es nie anders sein können und diese Millionen Ursachen führten zu diesem Ergebnis. Doch lässt sich hierzu im Vorfeld nichts sagen und die warmen und kalten Wellen auf der Straße bleiben unberechenbar.
Wir leben derzeit in sogenannten „unsicheren Zeiten“. So unsicher wie immer, aber mit größerem Problempotenzial. Wollen wir wissen, wie das endet und was als nächstes passiert? Nicht ohne Grund glaubte man Kassandra nicht. Niemand will wissen, dass Unheil kommt, wir leben von, wie Wisława Szymborska ihre Kassandra in einem Gedicht denken lässt, „einer feuchten Hoffnung“, die uns antreibt, uns am Leben erhält, uns neugierig macht.
Oh, Ungewissheit. Drohen Sie uns nicht zu sehr, dann werden wir Sie immer lieben.
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