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Kein Kaffee, keine Gespräche, keine Gemeinschaft

Kein Kaffee, keine Gespräche, keine Gemeinschaft

An einem typischen Montag in London kommt eine junge Softwaretesterin nach Hause und stellt fest, dass sie den ganzen Tag nur drei Worte gesagt hat: „Flat White, bitte“, murmelt sie einem Barista zu, der kaum aufschaut. Den Rest des Tages verbringt sie mit Programmieren, Kopfhörern und Algorithmen, die sie besser kennen als ihre Nachbarn.

Wenn Sie schließlich auf Ihr Mobiltelefon schauen und sehen, dass Sie keine Anrufe verpasst haben, verspüren Sie ein Unbehagen, das nun einen Namen und Statistiken hat: Einsamkeit.

Und Sie sind damit nicht allein.

Einsamkeit hat sich zu einer stillen Epidemie entwickelt, und zum ersten Mal in der modernen Geschichte beginnen Regierungen, sie nicht nur als individuelles Unbehagen, sondern als eine Frage der öffentlichen Ordnung zu betrachten. 2018 ernannte Großbritannien in einem beispiellosen Schritt einen Minister für Einsamkeit – ein Schritt, der vor nicht allzu langer Zeit noch wie aus einer dystopischen Satire gewirkt hätte, heute aber einer dringenden Realität entspricht: Fast die Hälfte der britischen Erwachsenen gibt an, sich oft einsam zu fühlen. Sieben Prozent sagen, sie fühlen sich ständig einsam.

Die globalen Aussichten sind nicht ermutigender. Einer Gallup-Umfrage zufolge gaben 23 % der Befragten an, sich „den Großteil des Vortages über einsam gefühlt zu haben“. In den Vereinigten Staaten berichtete dies im Jahr 2024 jeder fünfte Erwachsene. Besonders beunruhigend ist zudem, dass der Anteil derjenigen, die angeben, keine engen Freunde zu haben, in nur drei Jahren von 12 % auf 17 % gestiegen ist. Unter jungen Menschen, die paradoxerweise am besten vernetzt sind und ständig digital präsent sind, liegt der Anteil derjenigen, die angeben, sich regelmäßig einsam zu fühlen, bei 34 %.

Obwohl diese Welle der Einsamkeit oft mit psychischen Problemen in Verbindung gebracht wird, offenbart sie etwas Tieferes: die Leere des Gemeinschaftslebens. Was ist denn aus dem städtischen Leben verschwunden, dass so viele Menschen orientierungslos zurückbleiben?

Was wir verlieren, wenn wir das Eckcafé schließen

Soziologen definieren das Leben in drei Bereichen: Zuhause, Arbeit und sogenannte „ dritte Orte“, ein Begriff, den der Soziologe Ray Oldenburg geprägt hat, um informelle Orte des geselligen Beisammenseins zu bezeichnen: Cafés, Bibliotheken, Plätze, Bars, Schönheitssalons, Kirchen. Dies sind zugängliche, unprätentiöse und offene Umgebungen, in denen Fremde zu vertrauten Gesichtern werden und Gespräche ohne Einladung oder Agenda fließen. Orte, an denen man sich nicht verabreden muss, um jemanden zu treffen.

Im 20. Jahrhundert waren solche Orte weit verbreitet und bildeten diskrete Säulen des städtischen Sozialgefüges. Cafés, Parks, Kneipen – all das trug dazu bei, Fremde in informellen und unerwarteten Bindungen zu vereinen. Doch dann, fast unbemerkt, begann dieses Gefüge zu zerfallen, still und leise erodiert durch prohibitive Mieten, restriktive städtische Vorschriften, Gentrifizierung, allgegenwärtige Angst, den Kult der Produktivität und eine von Bildschirmen dominierte Freizeitwirtschaft.

Allein im Jahr 2024 werden in England und Wales über 300 Pubs schließen – durchschnittlich sechs pro Woche. Seit 2016 wurden über 180 öffentliche Bibliotheken in ärmeren Vierteln geschlossen oder an Freiwillige übergeben. Wenn die zugänglichsten Orte der Stadt verschwinden, schwindet auch die Möglichkeit zufälliger Begegnungen, unerwarteter Gespräche und der Entdeckung anderer Menschen außerhalb der Algorithmen.

Gleichzeitig hat eine digital geprägte Freizeitwirtschaft die Zeit in Anspruch genommen, die zuvor dem öffentlichen Leben vorbehalten war. Heute verbringt ein durchschnittlicher amerikanischer Erwachsener täglich sieben Stunden und drei Minuten vor dem Bildschirm – ein Anstieg von 54 Minuten seit 2019, Tendenz steigend. Die Telearbeit hat diese Trennung noch verschärft: Weniger Pendeln bedeutet weniger Möglichkeiten für einen Kaffee zwischendurch und weniger Momente gemeinsamer Entspannung. Freundschaften werden zunehmend im Voraus geplant. Und die meisten Kalender sind bereits voll.

Hinzu kommt eine Kultur, die von anhaltender Sicherheitsangst und wachsendem Individualismus geprägt ist. Wir lehren Kinder, Fremden nicht zu vertrauen, nur um später von Erwachsenen schockiert zu sein, die sich nicht als gute Nachbarn erweisen. Die von Algorithmen und Metriken geprägte Arbeitswelt erhebt Produktivität zur höchsten Tugend, während das einfache Ausruhen auf einer Parkbank manchmal mit Argwohn betrachtet wird. Heute gibt nur noch ein Drittel der Briten an, Fremden zu vertrauen – ein starker Rückgang seit der Jahrtausendwende.

Die Kurzsichtigkeit der öffentlichen Politik beendet diesen Erosionszyklus. Die kommunalen Haushalte priorisieren weiterhin Straßen und Konsum, während Plätze, Parks und Gemeindezentren, die wahren Wiegen des gemeinschaftlichen Lebens, vernachlässigt werden. Stadtplanungsvorschriften behandeln Gespräche immer noch als Lärm, den es zu unterdrücken gilt, und nicht als eine Form der Kultur, die es zu schützen gilt.

Diese Kräfte agieren nicht isoliert. Sie sind in denselben historischen Bogen verwoben: Öffentliche Räume, in denen einst spontane Solidarität gepflegt wurde, wurden zunächst kommerzialisiert, dann digitalisiert und schließlich pathologisiert.

Gesundheit ohne Parkbänke

Schließt man das Eckcafé, schließt man die Bibliothek, erhöht man die Preise in der Kneipe, schleicht sich etwas Subtiles, aber Verheerendes in das städtische Leben ein. Das Vertrauen der Bürger, dieser unsichtbare Faden, der das menschliche Zusammenleben aufrechterhält, beginnt zu bröckeln. Wo Treffpunkte rar sind, schwindet auch das Vertrauen in andere: OECD-Studien zeigen, dass mangels Gemeinsamkeiten nur wenige glauben, dass ein Nachbar eine verlorene Brieftasche zurückgeben würde. Die öffentliche Debatte verlagert sich in digitale Blasen, wo Echokammern den Dialog ersetzen und Polarisierung auf fruchtbaren Boden fällt. Ohne die Möglichkeit informeller Gespräche gibt es keinen neutralen Boden mehr, auf dem Differenzen gedeihen können. Die Stadt, einst ein Ort der Begegnung, verwandelt sich in einen lediglich funktionalen, nützlichen Ort, der jedoch seiner Seele beraubt ist.

Und diese Erosion beschränkt sich nicht nur auf den kulturellen Bereich. Sie geht tiefer. Sie zerfrisst den Körper ebenso wie den Geist. Eine wegweisende Studie, die im JAMA ( Journal of the American Medical Association ) veröffentlicht wurde, ergab, dass soziale Isolation das Risiko eines vorzeitigen Todes um 32 % erhöht. Chronische Einsamkeit trägt weitere 14 % bei. Kürzlich verglich der US-Gesundheitsminister Einsamkeit mit starkem Rauchen: Ein Leben ohne Kontakte, ohne soziale Kontakte kann so tödlich sein wie das Rauchen von 15 Zigaretten am Tag. Oder anders ausgedrückt: Der Mangel an Gemeinschaftsräumen verkürzt das Leben wie eine Schachtel Zigaretten am Tag.

Kein Stadtplaner würde ein Trinkwassersystem dulden, das ein Drittel der Bevölkerung tötet. Und dennoch gestalten wir weiterhin Stadtlandschaften, die stillschweigend die kollektiven Lebensräume zerstören, die körperliche, geistige und soziale Gesundheit ermöglichen. Die Folge sind nicht nur schlechte Laune oder ein vages Gefühl der Leere, sondern auch Bluthochdruck, ein geschwächtes Immunsystem und zunehmend stagnierende wirtschaftliche Mobilität.

Neuaufbau zur Wiederherstellung der Verbindung

Einsamkeit ist weder Schicksal noch natürliche Verdammnis. Sie ist vielmehr das Ergebnis städtischer, wirtschaftlicher und politischer Entscheidungen. Und genau deshalb kann sie auf diese Weise beseitigt werden. Solange wir das Zusammenleben nicht als integralen Bestandteil der städtischen Infrastruktur anerkennen, wird Einsamkeit weiterhin wie ein unsichtbarer, stiller, aber zutiefst zerstörerischer Schadstoff wirken, der die kollektive Gesundheit untergräbt und die Bindungen, die uns tragen, zerstört.

Der Wiederaufbau sogenannter „dritter Orte“ , jener Räume, in denen Menschen weder leben noch arbeiten, sondern einfach nur sind, ist dringend erforderlich. Und das bedeutet nicht, mehr Cafés zu eröffnen oder Plätze mit neuen Bänken neu zu gestalten. Es bedeutet, Geselligkeit als öffentliches Gut zu begreifen. Es bedeutet, Straßen zu gestalten, die zum Verweilen einladen und nicht nur zum Vorbeigehen. Es bedeutet, Anreize für Stadtteilbibliotheken zu schaffen, wahre Leuchttürme der Begegnung. Es bedeutet, Bauvorschriften zu überdenken, die Gespräche unterdrücken und ausschließlich kommerzielle Logik bevorzugen. So wie wir sanitäre Einrichtungen, Beleuchtung und Transport als grundlegende städtische Rechte betrachten, ist es an der Zeit, dasselbe mit menschlichen Kontakten zu tun.

Die junge Londonerin wird weiterhin ihren „ Flat White “ bestellen, wie sie es an so vielen Morgen zuvor getan hat. Aber vielleicht, wenn die Stadt großzügiger mit ihren Räumlichkeiten und offener für ihre Bürger ist, wird endlich jemand auf der anderen Seite der Theke aufschauen und voller aufrichtiger Neugier fragen: „ Wie geht es Ihnen?“

observador

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