Väter, Söhne und Geister hallen auf der Bühne in Avignon wider

Die Straßen sind gesäumt von Plakaten, die für Hunderte von Aufführungen werben. In Avignon, einer Stadt in Südfrankreich, deren Einwohnerzahl sich während des Theaterfestivals verdreifacht, sind die Terrassen nie leer, und jedes Gespräch wird von jemandem unterbrochen, der darauf besteht, seine Show zu „verkaufen“.
Unabhängige Künstler präsentieren sich immer häufiger direkt auf der Straße. Andere lenken die Aufmerksamkeit auf die Bühnen kleiner Theater, die überall in der Stadt wie Pilze aus dem Boden schießen und rund um die Uhr Aufführungen bieten.
Beim Festival von Avignon, das mittlerweile seine 79. Ausgabe feiert und vom Portugiesen Tiago Rodrigues als künstlerischem Leiter geleitet wird, sind die Karten längst ausverkauft. Fast alle Vorstellungen sind ausverkauft, was zu endlosen Warteschlangen für Last-Minute-Tickets führt. Doch die Lage hat sich wieder normalisiert, und es gibt sogar eine große Tafel mit Tickets und losen Zettelchen: „Verkaufe Tickets für Vorstellung x am Tag y“ oder „Umtausch für Tag z“. Niemand möchte die Vorstellungen verpassen, die wir erst in Monaten, wenn nicht Jahren, auf den großen europäischen Bühnen sehen können.
Inmitten dieses künstlerischen Treibens findet parallel dazu ein Festival statt: OFF, das als Antwort auf das offizielle Festival ins Leben gerufen wurde und in diesem Jahr die portugiesische Sprache in den Mittelpunkt stellt. Gastland ist Brasilien.
An einem späten Nachmittag sitzen zwei Dutzend Menschen auf dem Boden des Place de la Principale. Sie hören einem Mann in bahianischem Kostüm zu, der Pasta zubereitet. Der Tisch ist gedeckt, und Gilberto Gils „Pai e Mãe“ (Pai und Mãe) läuft, ein Lied aus dem Jahr 1975, das eine Revolution im männlichen Verhalten widerspiegelt. „Ich habe viel Zeit damit verbracht, zu lernen, andere Männer zu küssen, so wie ich meinen Vater küsse.“


▲ Die Show „Bola de Fogo“ des brasilianischen Künstlers Fábio Osório Monteiro endete mit der Aufführung von Acarajé, das dem anwesenden Publikum dargeboten wurde
Die Hände einer Frau übersetzen die Rede in Gebärdensprache – eine Reflexion über zeitgenössischen Tanz („Meistens ohne Kleidung. Alle sind nackt“), Rassismus („Sie sagt viel über unsere Haut aus. Aber unsere Haut sagt auch viel aus“) und Kolonialismus („Vor der Invasion gab es Menschen. Wo sind diese Menschen? Es ist dieses andere Gespräch, das, wenn wir hierbleiben, weit reichen wird.“). Vor allem aber ist es die Geschichte eines Künstlers, des brasilianischen Performers Fábio Osório Monteiro.
Um die finanziellen Herausforderungen des Künstlerlebens zu bewältigen, beschloss sie, in Bahia Acarajé zu verkaufen und baute dort ihren Stand auf, bereitete den Teig zu, briet die Knödel und verwebte dabei afrobrasilianische Mythen mit autobiografischen Elementen. In der Performance „Bola de Fogo“ (Feuerball ) erzählt sie ihre eigene Geschichte, darunter den Moment, als er als Schwarzer aus dem Nordosten Brasiliens seinem Vater die Stirn bot, um mit Mut und Wahrheit zu seiner Sexualität zu stehen.
Der am Ende der Vorstellung servierte Acarajé war nur ein Vorgeschmack auf das, was uns beim Festival von Avignon erwarten würde, wo sich familiäre Bindungen als wiederkehrendes Thema der Veranstaltung erweisen würden.
In einer zutiefst politischen Ausgabe – mit Arabisch als Gastsprache, dem Nahostkrieg im Hintergrund, der Pattsituation im Ukraine-Krieg, Trumps Wiederwahl, dem Niedergang des Macronismus und dem Aufstieg der extremen Rechten in ganz Europa – reagierten die Macher nicht mit Pamphleten, sondern mit ihrem Inneren. Sie wandten sich dem Inneren von Häusern zu, den familiären Bindungen, den Brüchen, die immer in der Nähe beginnen, aber in der Ferne nachhallen. Als ob angesichts des Zusammenbruchs der Welt das dringende Bedürfnis bestünde, zunächst zu verstehen, was am Tisch, zwischen Eltern und Kindern, zwischen ererbtem Schweigen und verfluchter Zuneigung geschieht.


▲ In „La distance“ reflektiert Tiago Rodrigues die Distanz zwischen Vater und Tochter (links). Der junge Mario Banushi erkundet in „Mami“ (rechts) Mutterfiguren.
Christophe Raynaud de Lage
Mario Banushi ist ein 26-jähriger albanischer Künstler, der dem breiten Publikum weitgehend unbekannt ist, aber dennoch als eine der Entdeckungen des Festivals gilt. „Mami “, sein Debüt in Avignon, ist ein wortloses Stück, das eine Frau mit tausend Gesichtern zeigt – eine Hommage an die Frauen, mit denen er aufwuchs: zuerst seine Großmutter, der er bis zu seinem 13. Lebensjahr anvertraut war, und dann seine Mutter. Indem er fragt, wer sich letztlich um wen kümmert, entwickelt Banushi ein visuelles Gedicht, eine Landschaft der Erinnerungen, durch die sich die Darsteller mit ihren eigenen Erinnerungen auseinandersetzen.
Tiago Rodrigues , der künstlerische Leiter des Festivals, präsentierte ebenfalls sein neuestes Werk. „La Distance“ ist ebenfalls ein Stück über Familie, genauer gesagt über die Beziehung zwischen Vater und Tochter im Jahr 2077. Er überlebt auf der Erde, die durch die globale Erwärmung fast vollständig zerstört wurde; sie zieht zum Mars, bereit, ganz von vorne anzufangen. Distanz verursacht Lärm in der Kommunikation, verlängert Stille und verwischt Erinnerungen. Auch hier werden Dystopien projiziert, die beunruhigend nah sind, inszeniert mit einem Realismus, der das Publikum wie ein Schlag in die Magengrube trifft. Das Stück feiert nächstes Jahr in Portugal Premiere.
Auch Thomas Ostermeiers neues Werk, das an der Oper von Avignon präsentiert wurde und auf Henrik Ibsens „Die Wildente“ basiert, wurde hoch gelobt. Der Klassiker des norwegischen Dramatikers aus dem Jahr 1884 ist eines seiner rätselhaftesten und düstersten Werke – ein Familiendrama, in dem die Wahrheit, weit davon entfernt, zu erlösen, sondern zerstört. Es ist eine bittere Meditation über Selbsttäuschung als Überlebensmechanismus. Ostermeier, bekannt für seine rohe und instinktive Ästhetik, ist eine Schlüsselfigur des zeitgenössischen europäischen Theaters und seit 1999 künstlerischer Leiter der Schaubühne in Berlin. Er findet hier einen fruchtbaren Boden, um die Grenzen zwischen Ehrlichkeit und Grausamkeit, zwischen Offenbarung und Ruin auszuloten. Die Inszenierung versetzt den Text in eine zeitgenössische Atmosphäre. Der Soundtrack, untermalt von Metallica und Led Zeppelin, verstärkt den tragischen Ton und die wachsende Spannung auf der Bühne. Ostermeier beschönigt nichts. Es geht um den Kern des Stücks und zeigt, dass die Wahrheit manchmal zu unerträglich ist, um sie im familiären Rahmen auszusprechen – und erst recht, um sie zu leben.

▲ Große Anerkennung fand auch das neue Werk von Thomas Ostermeier, das in der Oper von Avignon präsentiert wurde und auf Henrik Ibsens „Die Wildente“ basiert.
Christophe Raynaud de Lage
Und falls es Zweifel daran gab, dass der wahre Kern des diesjährigen Festivals von Avignon die Familie mit ihren Bindungen, Brüchen und Geistern war, so wurde dies in keinem Stück deutlicher als in „Israel & Mohamed“ , einem der Höhepunkte dieser 79. Ausgabe (deren Veröffentlichung in Portugal noch nicht erfolgt ist). In dieser einzigartigen Kreation hat sich der spanische Choreograf und Performer Israel Galván mit dem französisch-marokkanischen Künstler und Regisseur Mohamed El Khatib zusammengetan, um einen dokumentarischen Tanz zu schaffen, in dem sich das Persönliche und das Politische auf bewegende Weise miteinander verflechten.
Galván und El Khatib verwandeln ihre Körper in lebendige Archive und arbeiten im Schatten ihrer Vaterfiguren an den Themen Erinnerung, Erbe und Identität. Im Mittelpunkt steht die Begegnung der beiden Künstler und ihre persönlichen, familiären und beruflichen Geschichten, die sie mit entwaffnender Direktheit auf der Bühne erzählen. Unter dem Blick ihrer eigenen Eltern suchen sie nach einer gemeinsamen Sprache, die im Körper, in seinen Spuren und Narben verwurzelt ist.

▲ „Israel & Mohamed“ von Israel Galván und Mohamed El Khatib ist eine Hommage an die Eltern der beiden Künstler
Christophe Raynaud de Lage
Das Stück verzichtet auf Choreografie im traditionellen Sinne: Tanz, Flamenco, ist eine Sprache des Überlebens und der Archäologie des Selbst. Mit viel Humor und zurückhaltender Melancholie bietet Israel & Mohamed eine Meditation über Männlichkeit, Erbe, Exil und die Schwierigkeit der Weitergabe. Es gibt keine Katharsis, aber Schönheit: in der Zerbrechlichkeit, im Suchen und im Zuhören zweier Männer, die auf unterschiedliche Weise das Schweigen geerbt und in Bewegung verwandelt haben.
Der Observer reiste auf Einladung des Belém Cultural Center, Culturgest und des Porto Municipal Theater
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