Der Gaza-Krieg zeigt, dass die Zivilität brüchig geworden ist. Aber die Politik ist ein Spiegel der Gesellschaft

Worten folgen keine Taten: Daran hat man sich in der Politik gewöhnt. Donald Trump lässt Worten Taten folgen, zumindest manchmal. Er hat die Unberechenbarkeit zum Markenzeichen seiner Politik gemacht.
Michael Wolffsohn

Einen Zivilisationsbruch wie in der Hitler-Stalin-Mao-Zeit erleben wir nicht. Doch ein zeitweiliges Ende der Zivilität. Das haben die beiden vergangenen Jahre im Gaza-Iran-Doppelkrieg gezeigt. Personifiziert wird dieses Ende der Zivilität, zumindest in der westlichen Welt, unterschiedlich intensiv, von Personen wie Trump, Erdogan oder Orban. Aber täuschen wir uns nicht: Der Entzivilisierung auf der politischen ging die Entzivilisierung auf der gesellschaftlichen Ebene voraus und hier gerade im Bereich der vermeintlichen Wissens- und Kulturelite.
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Zivilität als elementare Höflichkeit, Bescheidenheit, Selbstkritik und als Fähigkeit, den oder das Andere in seinem Anderssein zu denken und zu tolerieren, ist eine Seltenheit geworden. Besonders an Universitäten, den vermeintlichen Tempeln des Denkens und der Gewaltlosigkeit, sind der bewusste Verzicht auf Differenzierung und Toleranz sowie die nahezu globale Brutalisierung besonders sichtbar.
Das Bulldozer-Verhalten in Politik und Gesellschaft ist nicht zuletzt eine Reaktion auf die Brutalisierung und Entintellektualisierung der Kultur und der Wissenschaften, vor allem der Geisteswissenschaften. Die pseudointellektuelle Gewalteskalation, die sich an antijüdischen und antiisraelischen Exzessen an Universitäten zeigte, schlug Trump mit ihren eigenen Mitteln: der Brutalität. Nicht körperlicher oder verbaler, sondern finanzieller. Er kürzte den Hochschulen die Mittel und setzte Strafzahlungen durch. Entzivilisierung hier, Entzivilisierung dort.
Dass Donald Trump kein Schöngeist ist, dürften selbst eingefleischte Verehrer des US-Präsidenten einräumen. Er ist ein Rambo, ein Bulldozer. Klassische Diktatoren setzen ihren Staatsapparat für den Kult um ihre Person ein, Trump erledigt das fast im Alleingang. Doch Trumps Gegner müssten spätestens seit dem Gaza-Abkommen vom 13. Oktober einräumen: Der Mann hat Erfolg.
SchildbürgerstreicheWarum? Sagt der Erfolg jenseits von Trumps Person etwas über die Gesellschaft aus? Nicht nur die amerikanische, sondern auch die westeuropäische? Oder gar die internationale Gemeinschaft, die zwar Gemeinschaft genannt wird, aber meistens leider keine ist?
Antworten gibt es viele. Eine ist entscheidend: Trump lässt seinen superlativischen, von Selbstlob strotzenden Wortfluten Taten folgen oder droht sie glaubhaft an, indem er seinem Gegenüber die «Folterinstrumente» bald zeigt, bald anwendet, dann wieder zurücknimmt, um sie kurz darauf wieder hervorzuholen. Kaum wahrnehmbar steckt in dem, was er sagt, gut versteckt, immer der eine oder andere «Hammer». Darin unterscheidet er sich von nahezu allen westlichen Politikern, deren weit besser gesetzte Worte längst niemand mehr ernst nimmt, weil sie meistens folgenlos sind.
Die Hamas müsse entwaffnet werden, hatten Biden, Scholz, dann Merz, Macron, Starmer, Sánchez und andere wortreich gefordert – und dem einzigen Akteur, der diese Worte in die Tat umsetzte, Israel, Waffen verweigert. Wer soll, wer kann Schildbürgerstreiche dieser Art ernst nehmen? Manche belohnten den palästinensischen Terror mit der Anerkennung von etwas, das es gar nicht gibt: dem Staat Palästina. Man kann ihn sich wünschen, aber anerkennen? Noch ein Schildbürgerstreich.
Obama, Merkel und Steinmeier und viele andere wollten die militärische Nuklearisierung Irans verhindern. Man schloss 2015 mit Iran ein Abkommen, das eben diese Nuklearisierung und die Weiterentwicklung von Trägerraketen, völkerrechtlich abgesichert, faktisch legitimierte. Wieder nur Worte. Die Tat – die faktische Entnuklearisierung sowie die Raketenabrüstung Irans – übernahmen im Juni 2025 Netanyahus Israel und US-Präsident Trump, die Buhmänner der globalen Massen, die sich selbst als Avantgarde von Moral und Zivilität verstehen.
Reden, reden, redenNicht nur in der Politik: Jeder und alle reden, reden, reden. «Sagen oder schreiben Sie uns Ihre Meinung.» Selbst in den Hauptnachrichten des Fernsehens bleiben uns die Meinungen von Herrn und Frau Jedermann auf der Strasse nicht erspart. Sie bewegen nichts. Reine Selbstbefriedigung der Jedermänner und Journalisten.
Politische Ankündigungen oder Wahlversprechen nimmt niemand mehr für bare Münze. Das bedeutet: Nicht nur Trump und seinesgleichen sind alles andere als die Personifizierung von Anstand und Tugend. Und wenn schon beides abhandengekommen ist, ziehen immer mehr Bürger das Original der wortreichen, aber tatenarmen Kopie vor. Typus Donald Trump und Erdogan oder immer mehr AfD. Nicht Trump oder die AfD formen die Gesellschaft, die Gesellschaft formt ihre Trumps und AfDs.
Trump hatte im Wahlkampf damit geprahlt, den Ukraine-Krieg innerhalb eines Tages beenden zu können. Ähnliches sagte er vom Gazakrieg und von anderen Krisenherden. Doch siehe da: Er packte es an. Dem Wort folgte die Tat. Unkonventionell, bisweilen auf Irrwegen wandelnd. Zum Beispiel nach Anchorage, Alaska, wo er Putin in der irrigen Erwartung traf, diesen auf ein Kriegsende programmieren zu können. Anders als andere brachte er mit dem Abraham-Abkommen 2020 und nun mit dem Gaza-Deal erstmals seit Jahrzehnten Bewegung und berechtigte Hoffnung – nicht nur in den Palästinakonflikt, sondern für den ganzen Nahen Osten.
Trump ist unberechenbar. Berechenbarkeit gilt traditionell als politische Tugend. Ganz bewusst setzt Trump die Mechanismen berechenbarer Politik aus. Selbst seinen Freund Netanyahu nimmt er, wenn es ihm geboten scheint, in den Schwitzkasten. Und er blufft. Israels Angriff auf die Hamas-Führung in Katar am 9. September 2025 gab er grünes Licht. Kaum war dieser erfolgt, verurteilte er die Aktion und gab dem wirtschaftsriesigen Militärzwerg für künftige Fälle Sicherheitsgarantien.
Der schlechte gute TonDie Überlegung ging auf: Die Aufforderungen seiner Amtsvorgänger und der mahnenden europäischen Politiker an Katar, die Unterstützung der Hamas zu begrenzen oder einzustellen, hatten nichts gefruchtet. Nicht Trump, sondern Netanyahu sollte der «böse Bube» sein – der sich dann beim katarischen Regierungschef entschuldigen musste. Sein Freund Donald hatte darauf bestanden. Vor den Augen aller Welt wurde «my good friend Bibi» erniedrigt. Die feine Art war das gewiss nicht – aber wirksam. Katars Chef verstand, und Netanyahu verstand: Jetzt geht es so, wie Trump es will. Und weil Katar verstand, musste auch die Hamas verstehen.
Westliche, besonders amerikanische Hilfen, Gelder, Güter oder Waffen wollen und bekamen viele. Weltweit. Oft zum Nulltarif. Aus Humanität, Zivilität, nicht nur interessenbezogen. Trotzdem gehörte der Antiamerikanismus – und daraus abgeleitet der Antiisraelismus – jahrzehntelang zum schlechten guten Ton der internationalen Gemeinschaft. Besonders in der Uno.
Trump hat das Spiel «Man nimmt von den USA und schlägt sie nachher» beendet. Die krisengeschüttelten arabischen und islamischen Staaten haben verstanden: Wenn sie wieder oder weiter US-Hilfen jedweder Art wollen, reicht es nicht mehr, einfach die hohle Hand hinzuhalten. Sie erkennen Trumps so schlichte wie harte Philosophie: Umsonst ist nur der Tod, und der kostet das Leben.
Michael Wolffsohn, Historiker und Publizist, ist u. a. Autor von «Eine andere Jüdische Weltgeschichte», «Wem gehört das Heilige Land?» oder «Feindliche Nähe: Von Juden, Christen und Muslimen».
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