Der Mey ist wiedergekommen – Rapper Haftbefehl legt seinen jungen Fans einen Liedermacher ans Herz

Reinhard Mey ist im kollektiven Gedächtnis der Älteren in Deutschland verankert als der Verschmitzte, der leishumorige unter den Lautenschlägern, der Mann, der „über den Wolken“ auf unserem Seelengrund schürfte. Im kollektiven Gedächtnis der heutigen Teens und Twens ist der heute 82-Jährige bislang vermutlich schlicht nicht vorhanden gewesen.
Das ändert sich gerade mit der Netflix-Doku „Babo – Die Haftbefehl-Story“ des Regieduos Juan Moreno und Sinan Sevinç, die vom Milieurapper Haftbefehl, von dessen Ruhm und seinen Kehrseiten, erzählt. Der Offenbacher, bürgerlich Aykut Anhan, gilt als eine der intensivsten Stimmen des deutschsprachigen Hip-Hops.
Aykut Anhan alias Haftbefehl zeigt auf ein Bild, das ihn mit seinen Kindern zeigt
Und er hat offenbar einen breiten Musikgeschmack, der über das eigene Genre hinausgeht. Er liebt beispielsweise den Song „In meinem Garten“ von Reinhard Mey, ein Stück von dessen Album „Aus meinem Tagebuch“, das 1970 erschien. Und er singt ihn auch.
Und zwar in einem der bewegendsten Momente dieses entwaffnend ehrlichen Musikerporträts. Da zeigt Anhan dem Filmteam zuerst ein zum Poster vergrößertes Bild, auf dem er mit seinen zwei Kindern („mein Sohn Noah und mein Baby Aliyah - die hat heute Geburtstag“) zu sehen ist.
Anhan greift nach dem Bild, als könne er die darauf Abgebildeten so berühren. Und dann deutet er auf sich selbst: „Und das ist der Dreck“, sagt er. „Links ist der Dreck. Ich, Dreck. Aber er liebt seine Kinder.“
Im nächsten Moment steckt Anhan unter der Kapuze seines Hoodies und sucht auf seinem Handy einen Song, sprechsingt mit heiserer Stimme, es ist mehr ein Brummen: „In meinem Garten, in meinem Garten, baut ein Rabe sich sein Nest“. Dann hat er das Stück gefunden. „Hier, Reinhard Mey. Kennst du Reinhard Mey?“ Und dann drückt er auf „Play“ und man hört das Lied, hört Reinhard Mey, den Mann mit dem feinen Sand in der sanften Stimme: „In meinem Garten, / in meinem Garten, / blühte blau der Rittersporn ...“
Haftbefehl, als er das Lied "In meinem Garten" abspielt
Aykut singt mit. Man spürt die Gänsehaut, die ihn überkommt. Der Rabe baute sich dann „in meinem Dache“ ein Nest. Anhan hat die Textzeile falsch erinnert und er lächelt kurz. „Brutaler Song, Alter, boa!“, sagt er. „Heftig!“ Und als Mey dann noch von der Liebe singt – „und sie nahm Platz in meinem Leben“ – wischt Haftbefehl sich die Augen.
Es ist nicht alles gut mit seiner Familie, das trat im Lauf von „Babo – Die Haftbefehl-Story“ offen zutage. Image und Person wurden schwerer zu trennen, Anhans Drogensucht wurde selbstzerstörerisch.
Die Doku steht auf Platz 1 der Netflix-Filmcharts. Und Reinhard Meys „In meinem Garten“ befindet sich am Dienstag, 4. November, um 14.30 Uhr auf Platz 13 der Spotify-Charts.
Wiederentdeckung eines der einst berühmtesten Sänger der Bundesrepublik, den in den Siebzigerjahren so gut wie jeder Deutsche kannte, und der als Frédérik Mey (nach seinem zweiten Vornamen Friedrich) auch eine Karriere in Frankreich hatte.
Die Gesangsstücke des gebürtigen Berliners waren voll von feingeistigem Humor. Sie wurden zum Teil Hits in den Charts, oft auch jenseits von ihnen: „Ich bin Klempner von Beruf“, „Die heiße Schlacht am kalten Büffet“, „Der Mörder ist immer der Gärtner“, „Es gibt Tage, da wünscht‘ ich, ich wär‘ mein Hund“ oder „Ein Antrag auf Erteilung eines Antragsformulars“ sind Klassiker der deutschen Popmusik.
Aber es gab auch die besinnlichen Stücke, wie „Über den Wolken“, das für den Regisseur Christian Petzold „das einzige gute deutsche Volkslied“ ist. Oder eben „In meinem Garten“, ein Lied über die Unterlegenheit des Kultivierens und über die Vergänglichkeit des Glücks. Der frisch gegossene Rittersporn des verliebten Gärtners, der im Geröll wuchs, wo alles andere verdorrte, bekommt den Garten um sich geharkt. „Doch die Blume verwelkte im Zorn“.
Und für den Raben, der mit den Löchern im Dach gut auskam, deckt der Sänger nun frische Ziegel, damit er es gut habe, doch „ins Nest unter dem Dache, kam der Rabe nie mehr zurück“. Das sind die Strophen, die im „Babo“-Film nicht erklingen.
Die letzten Zeilen, in denen der traurige Gärtner auch um seine Liebste fürchtet, lassen ahnen, weshalb Aykut Anhan so bewegt war: „Seit jenem Tag, an dem der Rabe / sein geschütztes Nest verschmäht, / seit ich die Blume trug zu Grabe, / meine Ruhe nicht mehr habe / bitt‘ ich, dass sie nicht auch von mir geht. / Dass sie nicht geht. / Ging sie fort, ging auch mein Leben, und das ist kein leeres Wort, / was ich besaß, hab‘ ich vergeben, / meine Seele und mein Leben / und die nähme sie mit sich hinfort.“
Es ist die Angst zu dem Moment, als er seine Kinder auf der Fotografie berühren wollte.
Es sind Mey-Wochen in diesem Herbst. Es will scheinen, als sei der Barde, der weiterhin Musik macht und auftritt, wirklich in einem Comeback begriffen. Am 18. September (als Tonträger am 31. Oktober) erschien bei Universal Music die Duett-Single „Eins ist geblieben“, ein Duett Reinhard Meys mit der Oberhausener Punkband Emscherkurve 77.
Der Song beginnt als Punkknüppel, nach zwei Minuten übernimmt Mey mit der Akustikgitarre: „Keine Ahnung vom Leben / viele Fehler gemacht / aber eins ist geblieben, / ist das, was wir lieben / dem Himmel sei Dank“. Dann wird gemeinschaftlich gepunkt. Und den letzten Satz spricht dann Mey ganz ohne Instrumente: „Für immer ein Punk“.
Reinhard Mey darüber, wie Punkrock in sein Leben kam
Worauf nicht nur die Lederjacke auf dem Cover hindeutet, sondern, was er von seiner Unangepasstheit her auch war ... irgendwie. Es gibt einige Vinylvarianten - black, splatter, swir. Im Dezember erscheint auch eine limitierte Auflage auf farbigem Vinyl, rot und dunkelgelb. Man „swiftet“ ein wenig für die Sammler.
Zum Punk gibt es schon länger Verbindungen. „Unsere Söhne haben ihn mit nach Hause gebracht“, schreibt Mey auf seiner Website. Der Song „Unter den Wolken“ vom „Laune der Natur“-Album der Toten Hosen etwa: „Es ist eine Anspielung auf ,Über den Wolken‘ und bezieht sich ständig darauf“, sagte Hosen-Sänger Campino 2017 in einem RND-Interview.
„Reinhard Meys Lied war zu seiner Zeit in den Siebzigern ja so etwas wie die inoffizielle Hymne der Bundesrepublik, vielleicht auch der DDR“, so der Hosen-Sänger. „Ein Träumen von einem Leben ohne Mauern und Grenzen, frei zu sein von dieser Enge der zwei Staaten, die uns so beklommen gemacht hat.“
Und auch der Hip-Hop hatte Mey vor der Premiere der „Babo“-Doku entdeckt. Der Rapper Gerrit Falius alias Disarstar hat im September sein Album „Hamburger Aufstand“ veröffentlicht, auf dem sich der Song „Meine Söhne geb‘ ich nicht“ befindet, ein Beitrag des Hamburgers zur aktuellen Wehrpflichtdebatte. Der auf Meys Antikriegsklassiker „Nein, meine Söhne geb‘ ich nicht“ verweist.
„Wir haben nur dies eine, kurze Leben“, sang Mey 1986. „Ich schwör′s und sag’s euch g′rade ins Gesicht: / „Sie werden es für euren Wahn nicht geben“. / Nein, meine Söhne geb’ ich nicht.“ Und Disarstar 2025: „Leben hat ein jeder doch nur eines, / selbst wenn der Himmel über mir zerbricht: / Nein, meine Söhne geb‘ ich nicht.“
Haftbefehl berichtete in seiner Instagram-Story über die Zusammenarbeit mit Mey. „Sie zögerten, an meiner Dokumentation teilzunehmen – verständlich, denn was sie zuvor im Netz über mich fanden, weckte wohl eher Zweifel als Vertrauen.“ Mit umso größerer Freude erfülle es ihn, dass Mey ihm nach dem Sehen der Doku persönlich schrieb, „und mir damit etwas gab, das tiefer geht als Zustimmung – eine stille, ehrliche Bestätigung".
Mey habe zum Ausdruck gebracht, dass man „den Menschen hinter dem Bild, den Künstler hinter den Schlagzeilen, erst wirklich verstehen sollte, bevor man sich ein Urteil erlaubt“.
Reinhard Mey selbst ist derzeit schwer ans Telefon zu bekommen. Laut seiner Plattenfirma Universal befindet er sich im Studio und nimmt neue Musik auf. Und er will sich dabei nicht durch Interviews stören lassen. Ein neues Album?
Es wäre das 30. Studiowerk, Nachfolger von „Nach Haus“ von 2024, auf dem er im Song „Nichts ist für immer“ etwas sang, das Aykut Anhan auch gefallen könnte: „Der Gipfel ist so viel schwerer festgehalten als erklommen / gar nicht leicht sich einzurichten, einmal am Ziel angekommen.“
Übrigens: Auch auf Haftbefehls Liedgut wirkt sich die Doku aus. In den Top 20 der Spotify-Charts sind die Plätze 4 bis 7 und 10 bis 12 heute mit seinen Songs belegt. Die offiziellen deutschen Singlecharts warten noch auf beide Künstler.
rnd





