Hans-Christian Andersen seit 150 Jahren tot: Zu Besuch in seiner Heimat

Odense. Märchenerzähler genießen ein wohliges Renommee. Im Auge des Volksmunds sind es betagte Herren mit Zwicker und Gehrock, deren Federkiel alltagsphilosophische Mythen von zeitloser Moral und Anmut zu Papier bringen. Wer sie beschreiben soll, würde sich daher vermutlich an Bildern von Jacob und Wilhelm Grimm orientieren, also eher nicht an denen des größten aller Märchenerzähler: Hans-Christian Andersen.
So alltagsphilosophisch, zeitlos anmutig seine Kunstwerke auch sind: Ihr Urheber war das genaue Gegenteil. Riesig von Wuchs und linkisch an Gestalt, sah „HCA“ – wie das dänische Nationalheiligtum daheim gern heißt – nicht nur seltsam aus, er benahm sich auch so.
Historiker Henrik Lübker lächelt fast entschuldigend, als er den Gegenstand seiner Forschung charakterisiert. „Bei allem Respekt: Andersen war ein geltungssüchtiger, selbstverliebter, also unsicherer Mann“. Schon deshalb habe er mehrere Autobiografien verfasst, „die sich komplett widersprechen“.
Kein allzu fabelhaftes Persönlichkeitsprofil, meint der Kreativdirektor des wichtigsten Museums in Dänemarks zweitgrößter Stadt Odense, das sich dem Leben ihres größten Sohnes widmet. Es war ein ebenso erfolg- wie entbehrungsreiches Dasein zwischen Trauer- und Lustspiel, professionellem Glück und privater Misere. Und wenn sich sein Todestag am 4. August zum 150. Mal jährt, wird es nirgends nachvollziehbarer als an Lübkers Arbeitsplatz, dem HC Andersen Hus im Herzen Odenses.
Errichtet vom Stararchitekten Kengo Kuma, der parallel das Olympiastadion in Tokio gebaut hatte, wurde es 2021 anstelle des trivialen Vorgängers eröffnet. Wer vier Jahre später die organisch geschwungene Holzkonstruktion betritt, taucht nicht nur in eine Welt der Poesie ein.

Das 2021 neueröffnete Hans-Christian Andersen Museum in Odense ist auch architektonisch beeindruckend.
Quelle: Laerke Beck Johansen/H.C. Andersen’s House
Für die Kuratorin Sine Smed Jensen „sind es Hans-Christian Andersens Gedankengänge“. Anhand von 220 Artefakten – ein Viertel der ursprünglich 900, aber auf mehrfacher Fläche – erspürt man hier das Innerste eines Poeten bei der lebenslangen Suche nach Anerkennung, Ausdruck, Sinn und Liebe, vor allem letztere.
Am 2. April 1805 als einziges Kind des hochpolitischen Schumachers Hans Andersen und der abergläubischen Wäscherin Anna im bettelarmen Rotlichtbezirk von Odense geboren, ist Hans-Christian als Kind schon kunstbeflissen, aber noch weitschweifig. Der chronologisch sortierte Weg durch die Stationen seiner Karriere zeigt: Erst will er Maler werden, dann Theaterschauspieler, zwischendurch Balletttänzer und schlussendlich Schriftsteller. Vor allem aber möchte HCA geliebt werden. Nur leider meist von den falschen.
Versehen mit einem Übermaß an Selbstbewusstsein geht er nach dem frühen Tod des Vaters mit gerade mal 14 mutterseelenallein nach Kopenhagen und verknallt sich prompt in eine ungleich ältere Primaballerina. Vergebens versteht sich.
Ungeachtet seiner mangelnden Anziehungskraft versucht er es fortan bei nahezu jeder Frau, die in seinen Dunstkreis gerät, und nimmt aufs neue Anlauf. Immer wieder. Der Schmetterlingsraum genannte Ausstellungssaal voller Liebesbriefe, Tagebucheinträge, Zeitzeugnisse zeugt von einer Hartnäckigkeit, die andere womöglich verbittert hätte.
Das zunehmende Leiden an sich und der Welt sorgt allerdings nicht nur für emotionale Zerrüttung, sondern auch für ungezügelte Kreativität. Schon am Ende der Schulzeit schreibt er das erste von 800 Gedichten, bald darauf das erste von 158 Märchen, und der Titel „Das sterbende Kind“ deutet aufs Lebensthema hin: die Unbill des Daseins aus Sicht unvollkommener, heranwachsender, fragiler Menschen, Tiere, Fantasiewesen. Das fabelhafte Fach bietet ihm Gelegenheit zur Abstraktion eigener Unzulänglichkeiten, die Henrik Lübker und Line Smed Jensen mit Installationen vom Scherenschnitt bis zum Anime überwältigend illustrieren.
Im Sirren und Flirren, Summen und Singen irrlichternd vertonter Lyrik folgen wir den Spuren seiner metaphysischen Flucht ins Panoptikum entäußerter Gefühle, die gleichsam eine höchst weltliche ist. Neun seiner 70 Jahre reist HCA rastlos durchs Europa der Spätromantik. Schon mit 30 weltbekannt, trifft er die Gebrüder Grimm oder Ludwig Tieck in Deutschland, Heinrich Heine und Franz Liszt in Frankreich, Charles Dickens, gar Queen Victoria in England. Und mit jeder Windung von Kumas Schneckenhaus abwärts führt uns das Museum näher zum Wesentlichen seiner Schaffenskraft – übersetzt in 160 Sprachen und trotz ihres hohen Alters von ewiger Gültigkeit.

Ein Blick ins Hans-Christian Andersen Museum in Odense.
Quelle: Laerke Beck Johansen/H.C. Andersen’s House
Im Untergeschoss, wo praktisch kein Tageslicht mehr scheint, werden die wirkmächtigsten seiner Märchen einzeln gewürdigt. „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ zum Beispiel, Andersens grüblerische Abrechnung mit der merkantilistischen Ständegesellschaft, lässt deren Kälte in sämtliche Glieder kriechen.
„Die kleine Meerjungfrau“ hingegen, Andersen Allegorie aufs Suchen und Finden selbstloser Liebe im Schlepptau von C. G. Jungs Tiefenpsychologie, blubbert wie ein halluzinierendes Aquarium durchs Gemüt, während „Der standhafte Zinnsoldat“ einem Springteufel gegenüber starr auf seine Tänzerin wartet, bevor er mit ihr zusammen im Schmelztiegel landet.
Andersens autobiografische Poesie, das wird fernab aller Didaktik fast körperlich spürbar, sorgt selten für Erlösung, aber gerade deshalb für eine Konfrontation mit der Endlichkeit fehlerhafter Individuen – seien es reale oder surreale. Auch deshalb hat sie uns bis heute etwas zu sagen. Kleinen Kindern, vor allem aber Erwachsenen.
Als Bestandteil seiner Geschichten, erklärt Kuratorin Jensen das museumspädagogische Konzept, „finden unsere Besucher hier Wahrheiten von heute, nicht von gestern“. Weil sie bürgerliche Konventionen jeder Epoche mit Aberwitz unterlaufen, wird ihre Aufarbeitung auch im HC Andersen Hus gegen den Strich gebürstet.
„Die Prinzessin auf der Erbse“ erzählt es folglich aus Gemüsesicht, „Des Kaisers neue Kleider“ als Lifestyle-Show mit interaktiver Umkleidekabine und „Das hässliche Entlein“ im Lichte aktuellen Schönheits(sch)wa(h)ns. Wie seine Märchen denkt auch ihre Präsentation „out of the box“. Aber auch um die Ecke gedeutet ist Andersens interpretationsoffene Anregung aller Sinne seit jeher so universell, dass der Audioguide neben Englisch oder Deutsch auch auf Mandarin angeboten wird. Der meistgehörte bleibt aber Dänisch.
Nirgendwo wird HCA schließlich inniger verehrt als zu Hause. In jener Stadt zumal, die ihm schon früh zu klein wurde. Als ihn Odense 1867 zum Ehrenbürger machte, pilgerten Zehntausende vors Rathaus, um dem heimgekehrten Sohn zu huldigen. Einen Autor von mehr als 1000 Werken in der Schwebe zwischen Eskapismus und Alltag. Einen Mystiker, dessen kindliche Fantasie sich bis nach China gegraben hat, wo seine Märchen jetzt Schulstoff sind. Einen PR-Profi, der Haarlocken an Fans verteilte und Gossip an Redakteure. Den größten aller Märchenerzähler, der popkulturell bedeutsamer ist als seine Kollegen Novalis, Grimm und Hauff zusammen. Auch 150 Jahre nach seinem Tod. Vielleicht mehr denn je.
rnd