Musik ist Trumpf | Kennst du Richard Weize?
Wenn man sich mit Richard Weize über Musik unterhält, fragt er einen ständig: »Kennste?« Und man muss sehr oft sagen: »Nee«, obwohl man doch denkt, man wüsste was. Weize spricht viel und gern über Leute, von denen man noch nie gehört hat. Er ist einer dieser legendären Typen aus dem Hintergrund der Musikbranche. Ein Plattensammler, der Platten macht, als Wiederveröffentlichungen. Die werden meistens viel besser präsentiert als die Originale – das ist wirklich einmal nachhaltiges Wirtschaften.
Davon wird meistens nur geredet, selten wird es praktiziert, von Weize aber schon seit Anfang der 70er Jahre. Diesen Montag wird er 80. In der Öffentlichkeit ist er kaum bekannt, aber unter Musikern. Wenn Bob Dylan in Deutschland tourt, dann sagt sein Bandleader Tony Garnier, Weize soll vorbeikommen, mit seinen Mitarbeitern.
Man kennt auch nicht all die Auszeichnungen, die er für sein Wirken bekommen hat, doch die machen die Hälfte seines Wikipedia-Eintrags aus. Bundesverdienstkreuz – okay, kennt man und auch den Preis der deutschen Schallplattenkritik. Aber den W. C. Handy Award oder den ARSC Award, den es gleich 17-mal gab? Ich kenne auch nicht den Ort, in dem Richard Weize aufgewachsen ist: Bad Gandersheim, Niedersachsen, irgendwo in der Nähe vom Harz. Das erste Lied, das ihm im Radio auffiel, war »Bravo, Bravo, beinah’ wie Caruso« von Vico Torriani. Da war er zehn. Später fand er Johnny Cash besser.
Die beiden kennt man schon. Aber wer ist Lefty Frizzell? Geboren 1928, gehörte er in den »1950er Jahren zu den wichtigsten Vertretern des Honky Tonk. Seine Kompositionen waren bis weit in die 1980er Jahre in den Country-Charts vertreten«, lese ich bei Wikipedia. Lefty Frizell war die erste Box gewidmet, die Richard Weize mit seiner Plattenfirma Bear Family verlegt hat: 14 Platten waren da drin, 1984. Sie hieß »His Life, his music«. Das merkte auch die »Washington Post« und wunderte sich: Warum erscheint in Westdeutschland so eine Box?
»Wenn ich was mache, dann mache ich das ernsthaft, sonst ist es sinnlos«, sagt Weize zu Beginn unseres Gesprächs. Vor 50 Jahren gründete er Bear Family. Ein Label für alles, was man ernsthaft kennen sollte, aber noch nicht kennt.
Weize wohnt seit langer Zeit im Wald im Elb-Weser-Dreieck zwischen Bremen und Stade auf einem Bauernhof im Wald. Da steht auch das Firmenlogo, ein großer Bär und zwei kleine, als Denkmal in Holz. In Originalgröße, würde ich sagen, gefertigt von einem Künstler aus Monterey, wo 1967 das erste große Hippie-Festival stattfand. Weize ließ die Bären aus Kalifornien einschiffen. Er hat auch noch eine kleinere Ausgabe davon, ich würde sagen: hüfthoch und autoverladefähig. Damit fuhr das Bärenteam in die großen Kaufhäuser und veranstaltete Verkaufsaktionen. Damals, als die Musikabteilungen von Karstadt oder Kaufhof noch ihre Platten selbst bestellen konnten. Das war die Zeit, als noch telefoniert wurde. Heute hat Weize das Problem, dass er nicht weiß, wen er bei den Plattenfirmen anrufen soll. Es geht keiner mehr ran.
Bear Family hat jede Menge Alben rausgebracht, ist aber berühmt für die Boxen, erst mit Vinylplatten, dann mit CDs. Es gibt eine Box mit der Musik der Republikaner im Spanischen Bürgerkrieg (7 CDs), die »Songs for Political Action« der US-Linken von 1926 bis 1953 (10 CDs). Das ist die Musik der Besiegten, die sie spielten, als sie das noch nicht wussten. Die »Blues Box« des Sun Labels (10 CDs) mit Howlin’ Wolf, Little Milton oder Rufus Thomas ist dagegen die Musik der Rock-’n’-Roll-Vorbereiter, die das ebenfalls noch nicht wussten.
Besser Bescheid wussten Chuck Berry (16 CDs), Peter Kraus (10 CDs) und Caterina Valente (9 CDs). Alle diese Boxen sind mit dicken Booklets im LP-Format ausgestattet, geschrieben von Fachleuten und anspruchsvoll layoutet: lesens- und sehenswerte Coffeetable-Books für Nerds, Fans und Wissenschaftler.
Die dickste Box ist »Black Europe« (44 CDs) mit der Musik, die schwarze Musiker im Europa des frühen 20. Jahrhunderts einspielten. Sie kamen vom Jazz und spielten in Shows und Varietés, wo sie auch mit weißen Sängerinnen auftreten konnten, was in den USA damals undenkbar war. Diese Box kostet so viel wie ein Wochenendurlaub, aber sie dauert länger.
Ein ziemlicher Hammer ist auch die Box »Beyond Recall« (11 CDs), eine Dokumentation des jüdischen Musiklebens von 1933 bis 1938: Platten, die verloren gingen, die nicht mitgenommen werden konnten, als ihre jüdischen Besitzer aus Nazideutschland fliehen mussten.
Solche Boxen werden weltweit von Bibliotheken und Archiven wie der Library of Congress in Washington gekauft, weil das praktischer ist, als sich die einzelnen Platten selbst zu besorgen. Über 350 Boxen sind bislang bei Bear Family erschienen. In den besten Zeiten arbeiteten 40 Leute für die Firma, davon allein drei, vier am Telefon, denn man konnte per Hotline bestellen.
Weize gründete 1975 Bear Family aus der Not heraus. Er hatte Kinder, eine Frau und ein Haus, nur kein Geld. Und dann sagte er der Bank, er habe eine gute Idee. Diesen Spruch glaubte ihm aber erst die dritte Bank – oder war es die vierte? Jedenfalls war es eine Kundenkreditbank. Das sind die, die ihren Kunden zwar Geld geben, aber nur, um sie dann mit hohen Zinsen aufzufressen, wenn sie nicht aufpassen. Viel schlimmer als Bären. Doch Weize passte auf.
Vorher hatte er Wein für die Brüder Elmar und Kuno Pieroth verkauft, erst in Nordhessen und dann in England, wo es besser lief. Weize wurde dort unter 500 Verkäufern der drittbeste: Man musste die Leute zu Hause besuchen und ihnen den Wein einschenken, den sie kaufen sollten. »In England warst du als Vertreter Mensch, in Deutschland ist der Vertreter ein Arsch«, meint Weize, während wir in seinem Arbeitszimmer auf Stühlen der Plattenfirma RCA sitzen und an der Wand eine Uhr von Sun Records tickt. Eine Anmutung wie in einem nostalgischen Diner, ist aber alles echt.
1971 ging Weize nach Deutschland zurück und fing dann mit den Platten an, Direktimporte für Sammler, ein bisschen so wie der deutsche Wein für Engländer. Warum machte er keinen Plattenladen auf? Weil er von den Sammlern nicht genervt werden wollte. Die wären in den Laden gekommen und hätten alles besser gewusst, ohne viel zu kaufen – nein danke! Sammler sind Verrückte, für Weize »gehören manche wirklich hinter Schloss und Riegel«. Zum Beispiel solche Sammler, die ihn anrufen, weil sie meinen, er habe da ein Lied auf einer CD drei Sekunden zu früh ausgeblendet.
Also machte er lieber Mailorder für Musik, aus der sich Bear Family entwickelte, sozusagen als Steigerung: Die Musik wieder rausbringen, die es hierzulande nicht mehr gab oder noch nie gegeben hatte. Und das mit neuem Vertriebssystem – per Computer. So etwas hatten in den 70ern nur Konzerne, doch Weize hatte einen Kumpel, der Mathematik studierte und einen Computer mit einer Schreibmaschine verbinden konnte. Die Firma Commodore startete damit erst Mitte der 80er – Weize war zehn Jahre früher und leaste einen Datic-Computer für 60 000 DM.
Irgendwann erzählte ihm ein Sammler von zwölf unveröffentlichten Songs von Johnny Cash, darunter zwei, die er auf Deutsch eingesungen hatte, denn er hatte als GI in Bayern seine erste Band gegründet. 1981 fuhr Weize zum ersten Mal in die USA, nach Nashville, um sich diese Aufnahmen zu besorgen. Hat er auch geschafft. Dabei fand er es irritierend, dass die Chefs der großen Plattenfirmen sich für Musik überhaupt nicht interessierten. Wenn man Auskünfte wollte, musste man sich an die Toningenieure und Studiomusiker wenden. Und einen Weg finden, in die Archive zu kommen.
Als er die Bänder von RCA sichtete und abhörte, hörte er auf einmal Elvis Presley rückwärts. Gespenstisch! Doch dann fand er heraus, dass damals die Bänder so teuer waren, dass sie doppelt verwendet wurden. Veröffentlicht wurde in Mono und teilweise nicht vom Originalband, sondern von der dritten oder vierten Kopie, was man eben so rumstehen hatte. Und wenn die Platte in England rauskam, wurde dort eine Kopie von der US-Platte gezogen, nicht etwa vom Band, aus reiner Faulheit. Vorher hatte sich Weize oft gefragt: Warum rauschen die englischen Pressungen so? Nun wusste er es. Und kaufte sich ein digitales Aufnahmegerät, um es besser zu machen.
Als dann um die Jahrtausendwende jeder Platten digital kopieren konnte, sanken die Umsätze der Musikindustrie auf zehn Prozent. Weize war es egal, er veröffentlichte in kleinen Auflagen, zwischen 500 und 2000. »Denn wenn plötzlich ein paar Veröffentlichungen 10 000 Stück verkaufen, dann denkst du, das wird beim nächsten Mal wieder so sein, und fällst wahrscheinlich damit rein«, meint er. Die einzige Box, die bei Bear solche Dimensionen erreichte, war die des Westberliner Nachkriegskabarettisten Günter Neumann – kennste? Und vor allem: Wer hätte das gedacht?
Deshalb kann Richard Weize sagen, er habe die Platten nicht des Geldes wegen gemacht. Und Heino hat er nicht die Hand gegeben, als der ihm mal bei einem Empfang vorgestellt wurde. Heute kommt ihm das etwas unhöflich vor. Doch er macht immer weiter, auch nachdem er 2015 Bear Family verkauft hat.
Jetzt bringt er Platten auf seinen Labels Richard Weize Archives und … and more Bears raus, zum Beispiel 2018 das Gesamtwerk der Ärzte (33 CDs). Oder eine Box von James Booker (5 CDs), ein genialer Pianist für Jazz und Soul am Piano – kennste? 1939 in New Orleans geboren, 1983 am Heroin zugrunde gegangen.
Booker war von Chopin und Beethoven beeinflusst und spielte in den Bands von Aretha Franklin, Wilson Pickett und Joe Tex. 1976 trat er solo im Haus der Jungen Talente in Ostberlin auf und ein Jahr später noch mal in der Leipziger Moritzbastei. Er spielte einen fulminanten Alleinunterhalter-Boogie-Blues und verjazzte »Für Elise« ebenso wie die Beatles und Curtis Mayfield. Diese Konzerte hat Weize 2023 unter dem Titel »Behind the Iron Curtain plus …« veröffentlicht, zum Glück – bevor sie vergessen werden. Oder wie es Booker singt: »Save your love to me!« Das wäre auch so ein Firmenmotto, kennste?
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