Kamel Daoud: Schreiben gegen das Schweigen

Eine schwarze Limousine bringt Kamel Daoud zum Interview in Berlin, mit zwei schwarz gekleideten Männern, die ihm nicht von der Seite weichen: Der Schriftsteller aus Algerien, der jetzt in Frankreich lebt, steht unter Polizeischutz. Sein jüngstes Buch brachte ihm nicht nur den wichtigsten französischen Literaturpreis ein, den Prix Goncourt, sondern auch eine massive Bedrohungslage.
Denn der Roman "Houris” erzählt von den Massakern und Folterungen im algerischen Bürgerkrieg. Damit bricht Daoud ein Tabu - und zugleich ein algerisches Gesetz von 2005, das es verbietet, diesen Krieg zu thematisieren, angeblich um die "nationale Versöhnung" zu befördern. "Wenn man so einen Roman schreibt, dann hat man als Feinde die Islamisten, das Regime - und sogar Intellektuelle der linksextremen dekolonialen Bewegung", sagt Daoud. "Man gefällt niemandem. Ich glaube, man kann den kleinen 17-jährigen Idioten, der etwas beweisen will, genauso fürchten wie ein Regime."

In Algerien ist "Houris" verboten, alle Bücher von Daoud wurden aus den Läden entfernt. Algerische Behörden erließen zwei internationale Haftbefehle gegen ihn, die allerdings von Interpol nicht angenommen wurden. Dazu kommt die Zivilklage einer Frau, deren Geschichte er unautorisiert verwendet haben soll. "Das ist Verleumdung", sagt Daoud, auch dahinter stecke das Regime.
Während der Befreiungskrieg gegen die französische Kolonialmacht (1954-62) noch heute die nationale Identität Algeriens prägt, tut das Regime alles dafür, den Bürgerkrieg der 1990er Jahre vergessen zu machen. Damals lieferten sich die Regierungs-Armee und islamistische Terrorgruppen blutigste Kämpfe. Vieles ist seither im Dunkeln geblieben, sogar die Zahl der Todesopfer, die meist mit etwa 200.000 angegeben wird. Im Dunkeln geblieben ist aber auch das Leid der Opfer. Und die Frage nach der Verantwortung: Zahllose Täter gingen straffrei aus.
Schweigen über Opfer und TäterAls Journalist schrieb Daoud über den Krieg. "Aber es gibt Dinge, die man nicht schreiben kann und die einem im Kopf bleiben. Wenn man einen Bericht über ein Massaker mit 400 Opfern schreibt, dann ist 400 eine Zahl. Aber wie will man erzählen, dass man über Leichen gestiegen ist?" Der Roman nimmt eine andere Perspektive ein. Erzählerin ist eine junge Frau, die als kleines Mädchen ein Massaker überlebt hat. Ihr wurde die Kehle durchgeschnitten, doch sie wurde gerettet.
Daoud wollte unbedingt eine Frau zur Hauptfigur seines Romans machen, denn Frauen, sagt er, sind diejenigen, die im Krieg den höchsten Tribut zahlen. "Den Männern verzeiht man - oder nicht. Aber Frauen, die als 13-, 14-jährige Mädchen von Islamisten entführt wurden, die vergewaltigt wurden und schwanger wurden? Nach dem Krieg sind die Männer zurückgekommen, aber die Frauen sind mit ihren Kindern zurückgekommen. Und das verzeiht ihnen niemand!"

Daouds Erzählerin Aube wird erst nach dem Krieg schwanger. Verziehen wird ihr trotzdem nicht. Schon gar nicht, dass sie sichtbar die Narbe am Hals trägt, die ihr Schlächter ihr zugefügt hat: Provokation für eine Gesellschaft, die jede Erinnerung an das "Schwarze Jahrzehnt" auslöschen will.
In einem inneren Monolog spricht Aube mit ihrem ungeborenen Kind, von der Gräueltat und von der Zeit danach. Dass diese fragile junge Frau, die nur durch eine Kanüle am Hals atmen kann, zugleich kämpferisch auftritt, ist eine weitere Provokation. Im Roman betreibt sie ausgerechnet gegenüber einer Moschee einen Beauty-Salon, einen kleinen Ort der Freiheit, in dem sich ihre Kundinnen schön machen lassen, während der Imam frauenfeindliche Predigten hält.

Der Romantitel "Houris" spielt an auf die Jungfrauen, die einen rechtschaffenen Muslim im Paradies erwarten sollen. "Meine Houri" nennt Aube ihr ungeborenes Kind, doch sie fragt sich, ob sie es überhaupt leben lassen soll: Zu schmerzhaft ist die Vergangenheit, zu feindlich die Gegenwart - vor allem für Frauen. "Wie jeder weiß, bin ich Feminist", sagt Daoud. Sein Roman zeichnet das Bild eines erdrückenden islamischen Patriarchats, mit bärtigen Männern als Figuren, die mit Messern hantieren und den Tod höher schätzen als das Leben.
Islamisches PatriarchatSchon nach der Veröffentlichung des Romans in Frankreich 2024 gab es Vorwürfe gegen Daoud, er sei islamophob und spiele Rechtsextremisten in die Hände. Er weist das vehement von sich: "Islamophobie ist eine westliche Krankheit, nicht meine! Ich habe einen Bürgerkrieg erlebt, wo ich Islamisten habe töten sehen. Ich habe das Recht, meine Stimme zu erheben, und Sie haben nicht das Recht, mich zum Schweigen zu bringen."

Mit dieser Haltung steht Kamel Daoud seinem Schriftstellerkollegen und Freund Boualem Sansal nahe. Auch er schreibt seit vielen Jahren gegen islamistische Gewalt, gegen die "Narren Allahs" - und gegen das algerische Regime an. Auch er erhielt wichtige Literaturpreise. Wie Daoud nahm er zuletzt die französische Staatsbürgerschaft an. Ende 2024 wurde er bei der Einreise nach Algerien verhaftet und sitzt seitdem im Gefängnis.
Verstörend für Kamel Daoud - mit Blick auf den Freund, aber auch auf seine eigene Bedrohungslage: "Wenn das Regime so weit gegangen ist, zwei internationale Haftbefehle gegen mich zu erlassen, dann wollen sie wirklich, dass ich an der Seite von Boualem Sansal bin."
dw