Vor hundert Jahren wurde Ernst Jandl geboren. Depressionen und Krisen quälten ihn – nur der Witz konnte ihn von sich selbst befreien


Als sie das popkulturelle Wort «Beat» hörten, waren auch die Beatles mit dabei. Sie spendeten Geld, um ein Ereignis stattfinden zu lassen, das bis heute legendär ist. Am 11. Juni 1965 füllte sich die Londoner Royal Albert Hall mit siebentausend Menschen, die neue Gedichte von Allen Ginsberg, William S. Burroughs oder Lawrence Ferlinghetti hören wollten. Ferlinghetti trug das Manifest «To Fuck is To Love Again» vor.
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Ginsberg war als Letzter dran, aber davor stand noch ein Mann im weissen Hemd auf der Bühne, der inmitten der Beat-Poeten so bieder aussah, wie es sein Brotberuf als Englischlehrer eben erlaubte: Ernst Jandl. Jandl las Lautgedichte und hatte mit dem grimmigen Antikriegspoem «schtzngrmm» einen Sound getroffen, der zwischen Politik und Pop schwebte. Das Publikum im Saal ging mit, und die Geräuschkulisse steigerte sich noch weiter in ein Toben, als Jandls «ode auf n» folgte.
Die lautliche Dekonstruktion des Namens Napoleon führte zu einer Hysterie der Massen. Aufgepeitscht vom Stakkato einer gewaltigen Stimme waren sie in der Royal Albert Hall der Wirkmacht von Verführern verfallen. Dem Feldherrn Napoleon und einem bis dahin fast unbekannten Dichter aus Wien.
«Dichten ist Leben, kein Kommentar», hat Ernst Jandl einmal geschrieben. Dass er selbst in seinem Werk steckt, als Tyrann und als Opfer von Tyrannei, kann man ihm glauben, und so kann man noch zu Jandls hundertstem Geburtstag zwei Dinge sehen: was das Leben aus dem Menschen macht. Und was der Mensch aus dem Leben macht, wenn er sich dichtend dafür rächt.
Frühe private KatastrophenNiemand war in seinem Zorn witziger als der im Jahr 2000 verstorbene Ernst Jandl. In einem Epigramm fordert er Humor mit finster rollendem R hintendran, knatternd wie ein Maschinengewehr. Der Vorname Ernst sei ihm noch zu wenig, hat Jandl einmal festgestellt. Er müsse eigentlich «Entsetzt» heissen.
1925 hineingeboren in die grossen Krisen der Welt, ist der spätere Schriftsteller auch privaten Katastrophen ausgesetzt, die seine Existenz auf Jahrzehnte verschatten. Als er vierzehn ist, stirbt die geliebte, tief religiöse Mutter. Mit sechzehn zeugt er fatalerweise mit der Haushaltsgehilfin ein Kind. Der Traum kleinbürgerlicher Idylle zerfällt zur Tragödie und taucht als unerlöster Wiedergänger in vielen Gedichten wieder auf. Sie sind blasphemisch und gehen mit der Sexualität und dem menschlichen Körper höchst ungnädig um.
Es ist ein wienerisches Ecce-Homo, das man bei Ernst Jandl sieht. Statt Pathos gibt es Fallhöhe. Wo es geht, strebt seine Poesie nach unten, «forten von diesen hygienischen orten», zur «heruntergekommenen Sprache» und zum «sprachenschmutzen», für die er berühmt werden sollte.
Wer heute Ernst Jandl liest, der wird der Verzauberung, die in dieser Entzauberung der Welt liegt, immer noch verfallen. Gegen die Reinheitsgebote der Schönheit gab es eine zärtliche Gewalt, die sich spätestens in jenem Buch zeigt, mit dem der Autor berühmt-berüchtigt wurde: «Laut und Luise».
Ein vernichtendes Urteil1958 hat der Suhrkamp-Verlag in Gestalt des Lektors Walter Boehlich die Gedichtproben dazu geprüft und ein vernichtendes Urteil gefällt: «Wir erlauben uns, Ihnen Ihre Gedichte wieder zurückzuschicken, da wir uns ausser Stande sehen, in diesen puren Wortspielereien irgend einen lyrischen Gehalt zu entdecken. Man kann vieles als Gedicht bezeichnen, diese Stücke aber ganz gewiss nicht. Mit den besten Empfehlungen.» Mit Jandls berühmtem «Laut und Luise»-Epigramm «lichtung» könnte man sagen: «werch ein illtum!» Dass es in der Literatur neben rechts und links auch lechts und rinks geben und dass man das alles nicht velwechsern darf, wird sich erst herumsprechen.
Schon im Titel ist das 1966 endlich im Walter-Verlag erschienene Buch eine Hommage an die verstorbene Mutter, die mit Vornamen Luise hiess. Der Titel ist aber auch ein Doppelbild. Das Wort Laut könnte ein zweiter Name Ernst Jandls sein, der in den Lauten der Wörter einen eigenen Aggregatzustand des Daseins gefunden hat. Bei seinen Lesungen ist der Dichter selbst zum akustischen Ereignis geworden. Er war ein Stimmkörper.
Es hat etwas Zwingendes, zu diesem Dichter die «Biografie einer Stimme» zu schreiben, wie es der Jandl-Kenner Bernhard Fetz gerade auf eindrückliche Weise getan hat (Ernst Jandl. Biografie einer Stimme. Wallstein-Verlag, Göttingen). Die Lautgedichte auf den Buchseiten waren nichts gegen ihre performativen Pendants auf der Bühne. Der Autor war ein Meister jener Geräusche und Untertöne, mit denen sich die Worte selbst verraten.
Als Dichter war er nicht ihr Untertan, sondern erlangte die Herrschaft über sie zurück. Er dirigierte sie auch in einem musikalischen Sinn und kombinierte sie mit den klangästhetischen Formen des Jazz. Das Synkopische ist Teil von Jandls Lyrik, ein Rhythmus, der auf eine klangliche und inhaltliche Pointe zustrebt und für Klassiker wie «ottos mops» gesorgt hat.
Alle Innerlichkeit war Ernst Jandl fremd, sie war ihm höchstens ein gastrointestinales Phänomen: «grossteils die scheissmaschine steckt in dir / du wunder mensch, verwundetes mirakel». Dass Lyrik etwas Mirakulöses haben könnte, daran hat dieser Dichter nicht geglaubt und Kollegen wie Goethe oder Rainer Maria Rilke mit grosser Lust profaniert. Im Zyklus «der gewöhnliche rilke» heisst es: «der ungewöhnliche rilke / und der gewöhnliche rilke / steckten im gleichen».
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Der gewöhnliche Jandl ist der, der auch in seinen Gedichten vorkommt. Niemals hat er sich als Bohémien verstanden oder war der Versuchung erlegen, das Kleinbürgerliche seiner Herkunft in einer Opferrolle zu stilisieren. Das Lächerliche war der Stoff Ernst Jandls, und dass er sich selbst dieser Lächerlichkeit preisgegeben hat, ist Teil seiner Grösse.
Selbstbezichtigungen einerseits und Zartheiten gegenüber anderen sind Teil seines Werkes. Die deutsche Literatur verdankt dem Österreicher eines der schönsten Liebesgedichte, «liegen, bei dir»: «ich liege bei dir, deine arme / halten mich. deine arme / halten mehr als ich bin. / deine arme halten, was ich bin / wenn ich bei dir liege und / deine arme mich halten.»
Eine Schrägstrichbeziehung wurde das symbiotische Verhältnis zwischen Ernst Jandl und Friederike Mayröcker genannt. Über Jahrzehnte schufen beide nebeneinander Werke, die unterschiedlicher kaum hätten sein können und doch miteinander korrespondieren. Dichten als Existenzform war beiden Last und Lust zugleich.
Für Jandl, der bis zu seinem Lebensende von Depressionen und Schreibkrisen geplagt war, war das am Ende eine Zumutung. Schon 1978 ist seine Sprechoper «Aus der Fremde» entstanden, die, ganz im Konjunktiv geschrieben, den ungemütlichen Raum ausmisst, den man mit sich selbst bewohnt. In einem Gedicht aus dem gleichen Jahr heisst es: «wer sich der nächste sei / werfe auf sich / den ersten stein.»
Die Erlösung von sich selbstDer Avantgardist Ernst Jandl hat die Literatur von den ästhetischen Über-Ichs erlöst, die sie bis weit in die sechziger Jahre verfolgt haben. Schreibend hat er den Kampf mit den Autoritäten aufgenommen, die lange Schatten auf seine Biografie warfen: Formen des Militarismus, kirchlicher Dogmatismus, überkommene Familienbilder.
Am wenigstens siegreich war er bei der Erlösung des eigenen Ichs von sich selbst. So sind die Gedichte, Hörspiele und Stücke Jandls Beispiele eines grossartigen Gelingens im Misslingen, eine Heilstheologie des Unheils, die nur einen Retter kennt: den Witz.
Der Witz des Ernst Jandl hat sich bis zu seinem 100. Geburtstag weit über die Londoner Royal Albert Hall hinaus verbreitet. Sein «schtzngrmm» heisst auf Spanisch «trchnbrmm». Das «pirsch! / döppelte der gottelbock von Sa-Atz zu Sa-Atz» aus dem berühmten «wien, heldenplatz», das Hitler bei seiner «Anschluss»-Rede 1938 vorführt, klingt auf Englisch so: «at’em / the goddlebuck drabbled from phra-ase to phra-ase».
Nichts ist gut bei Ernst Jandl, aber seine Gedichte sind die besten. Am allerbesten sind die kurzen. Zum Beispiel «Spruch mit kurzem o»: «Ssso».
nzz.ch