Von wegen Bullerbü: Auch Schweden hat große Probleme

Die Sache ist klar: Schweden kommt einem ultimativen Sehnsuchtsort für viele Deutsche gleich. Das skandinavische Königreich erscheint vielen als ein nahezu perfektes Land mit tiefenentspannten und friedlichen Menschen. Als eines, in dem man dem lauten Getöse der weiten Welt bestens entfliehen kann – in ein Bullerbü-Idyll mit lauschigen Sommerabenden im dunkelroten Holzhäuschen am See.
Natürlich ist das bloß eine Fiktion. Auch in Schweden plagen sich die Einwohnerinnen und Einwohner mit allerlei Problemen. Längst läuft nicht alles rund im hohen Norden. Und das Handeln der Menschen und der Politik ist mitnichten frei von Brüchen und faulen Kompromissen.
Ein Gefühl dafür bekommt man bereits, wenn man auf dem Stockholmer Airport Arlanda aus dem Flugzeug steigt. Zwar hat uns das Heimatland von Greta Thunberg den Neologismus Flugscham („flygskam“) beschert. Davon unbeeindruckt verreist aber noch immer ein großer Teil der Schweden alljährlich bis ans andere Ende der Welt. Nur zu gerne entfliehen sie den dunklen Wintertagen, besonders rund um Weihnachten wollen viele noch einmal auf den Sommer treffen. Just jene Jahreszeit also, die hier oben nur ein kurzes Gastspiel gibt.
Wie zur Gewissensberuhigung trägt dafür im Gegenzug so ziemlich jedes Produkt in den Supermärkten zwischen Kiruna und Trelleborg schmucke Umweltlabel. Davon gibt es gleich eine ganze Reihe. Nachhaltigkeit hat einen hohen Stellenwert in der schwedischen Gesellschaft – und sie scheint ein gutes Verkaufsargument zu sein: Direkt neben seiner mehr als reichhaltig bestückten Obstabteilung bietet die Supermarktkette ICA im Stockholmer Süden frisch pürierte Smoothies an und verkündet stolz, wie viele Früchte so vor dem Wegschmeißen gerettet wurden. Was auf den ersten Blick toll klingt, weckt beim zweiten Blick Zweifel: Muss die Obst-Auslage denn wirklich so überbordend voll sein? An ihr liegt es schließlich, dass es zum Überschuss kommt.
Gewiss, diese Alltagsbeobachtung mag eine Petitesse sein. Wesentlich schwerer wiegt da die Kahlschlag-Methode, mit der in dem Land, immerhin 1,3-mal so groß wie die Bundesrepublik, Forstwirtschaft in industriellem Maßstab betrieben wird. Und die rüttelt an allen Nachhaltigkeitsidealen. Denn in den dunklen Wäldern wird mit brachialer Maschinenkraft massiver Raubbau an kränkelnden Monokulturen betrieben.

Kahlschlag im schwedischen Norden: Unsere Aufnahme zeigt, wie Baumstämme in Jokkmokk (Schwedisch Lappland) abtransportiert werden.
Quelle: IMAGO/TT
Umweltschützer von WWF bis Greenpeace beklagen, dass die Großkonzerne dabei den letzten weitgehend unberührten Naturwäldern Schwedens immer weiter zu Leibe rücken. Jedes Jahr schrumpft ihre Fläche um ein paar Prozent, sagen sie. Jahrhundertealte Bäume fallen, intakte Ökosysteme verschwinden, nur um zu Klopapier verarbeitet zu werden. Ein absoluter Umweltfrevel, der jedoch, so der Vorwurf der Aktivisten, nur zu gut zur aktuellen politischen Großwetterlage im Land passe.
Tatsächlich hat die bürgerlich-konservative Minderheitsregierung von Ministerpräsident Ulf Kristersson, die im Parlament auf die Unterstützung einer Rechtsaußen-Partei angewiesen ist, seit ihrem Amtsantritt im Herbst 2022 etliche ambitionierte Klimaziele gekippt. Auch wenn sie das naturgemäß ganz anders einordnet. Obwohl sie etwa beim weiteren Ausbau der Windkraft massiv auf der Bremse steht, hört man von der Regierung gebetsmühlenartig, dass Schweden uneingeschränkt auf klimafreundliche Energiequellen setze. Gemeint ist auch die CO₂-freie Atomkraft - für deren Renaissance will die Koalition sogar etliche Milliarden an Darlehen bereitstellen.
Dass die Regierung das bisher eigenständige Umweltministerium abgeschafft und ins Wirtschaftsressort eingegliedert hat, kommt nicht von ungefähr, sondern ist Ausdruck eines fundamentalen Politikwechsels. Mit der politischen Neuausrichtung wurde das Budget, das für den ökologischen Umbau der Wirtschaft vorgesehen war, kurzerhand halbiert. Solche Kürzungen rechtfertigt die Politik damit, dass sie auf viele Steuereinnahmen verzichtet – und den Unternehmen so doch massig Freiraum für Innovation und Investition gibt. In den vergangenen Jahren hat es eine regelrechte Steuersenkungs- und Streichungsorgie gegeben: Die üppigen Erbschafts-, Schenkungs-, Vermögens- und Grundsteuern sind Geschichte. Erst vor wenigen Wochen wurde die Luftverkehrsteuer abgeschafft. Schweden, das Hochsteuerland? Das war einmal.
Auch die Abgaben auf Benzin und Diesel wurden gesenkt, denn Kristerssons Regierung will das Autofahren im Oldschool-Verbrenner wieder erschwinglich machen – und attraktiver. Eine breit angelegte Abwrackprämie ersetzte die zielgerichteten Kaufanreize, die die sozialdemokratisch geführte Vorgängerregierung noch für E-Autos bereithielt. Wer mag angesichts der Entwicklungen dem schwedisch-chinesischen Autohersteller Volvo verübeln, wenn er sich von seinen ursprünglichen Plänen für ein Verbrenner-Aus im Jahr 2030 verabschiedet?
Für den Bau neuer Autobahnen macht das Kabinett Mittel locker, indem es Töpfe anzapft, die ursprünglich für Sanierung und Ausbau des maroden Schienennetzes vorgesehen waren. Das Geld könnte die Bahn dringend gebrauchen. Auf den Gleisen unterwegs zu sein, hat für Fahrgäste meist denselben Nerveffekt wie in Deutschland. Im vergangenen Jahr waren die Züge in Schweden so unpünktlich wie nie zuvor.

Eine Straßenbahn der Linie 7 in Stockholm: Viele der Abfahrten fallen in diesem Sommer aus, weil es nicht genug fahrbereite Waggons gibt.
Quelle: IMAGO/TT
Dass überhaupt etwas fährt, ist längst nicht sicher. In diesen Sommertagen erleben Touristen, wenn sie sich in der Hauptstadt mit der Straßenbahnlinie 7 zu den Attraktionen auf der Insel Djurgården aufmachen wollen, das täglich. Etliche der Abfahrten fallen aus, weil es nicht genügend einsatzbereite Fahrzeuge gibt. Parallel dazu gibt es massive Einschränkungen auf der grünen U-Bahn-Linie wegen Bauarbeiten. Immerhin handelt es sich dabei nicht bloß um ein Herumdoktern am Bestand, sondern um milliardenschwere Investitionen: Ein komplett neuer Streckenast wird angeschlossen.
Die meisten Stockholmer freuen sich, dass die Baumaßnahme in die Zeit ihrer ausgiebigen Sommerferien fällt. Viele verlassen dann die Stadt. Die Bauarbeiter indes verpassen die besten Sommertage unter Tage und werden im Gegenzug dafür fürstlich entlohnt, denn in Schweden sind die Gewerkschaften überaus stark. Zu Streiks kommt es nie, weil die Arbeitnehmervertreter mit einem Organisationsgrad von rund 70 Prozent ihre Forderungen immer direkt durchdrücken können.
Wer sich also wundert, warum in solch einem durch und durch sozialdemokratisch-geprägten Land wie Schweden die Supermärkte auch sonntags geöffnet sind, sollte wissen, dass die Angestellten am Wochenende den doppelten Lohn bekommen. Solange die Bedingungen stimmen, machen die pragmatischen Nordeuropäer vieles mit. Das geht sogar so weit, dass selbst am ersten Weihnachtstag die Müllabfuhr kommt. Der Autor dieses Textes konnte das beim Blick aus dem Fenster seines Studentenwohnheims mit großer Verwunderung selbst vor etlichen Jahren erleben.
Wenn man sich mit Schweden darüber unterhält, was in ihrem Land anders läuft als in Deutschland, kommt man rasch auf die „Klassiker“ zu sprechen, denen in so ziemlich jedem Land ein immenses Aufregerpotenzial innewohnt. Das Gesundheitssystem beispielsweise. Im internationalen Vergleich bekommt das Land im Norden dafür recht gute Noten. Die Schweden sehen das ganz anders – und ärgern sich wortreich über lange Wartezeiten beim Arzt. Darüber zu klagen, ist gewissermaßen ein allgemein goutiertes Small-Talk-Thema, bei dem niemand riskiert, etwas Falsches zu sagen.
Weitaus weniger engagiert sprechen die Schweden hingegen über die grassierende Gangkriminalität oder die restriktive Migrationspolitik ihrer Regierung, die nicht so recht ins Schwedenbild mit seiner liberalen und offenen Gesellschaft passen will. Mit Verve öffentlich verteidigen mag das strenge Asylrecht kaum jemand, selbst wenn er oder sie an der Wahlurne doch dafürstimmt.
Vermutlich hängt das mit einem schwedischen Charakterzug zusammen: dem, dass man eine direkte Konfrontation tunlichst vermeidet. Diskutieren ja, aber bitteschön sachlich. Mit Verständnis für die Positionen der anderen und mit dem Wunsch, einen Konsens zu erzielen. Zeichnet der sich nicht ab, wird das Thema lieber vertagt. Und bei heiklen Fragen geht man doch eher nicht in die Tiefe. Über das eigene Empfinden, gar Gefühle zu sprechen? Schwierig.
Größtmögliche Offenheit praktizieren die Schweden dafür aber in anderer Hinsicht: Mit nur geringem Aufwand lässt sich herausfinden, was der Nachbar oder Arbeitskollege verdient oder welche Autos auf ihn zugelassen sind. Kein Schwede würde je die Augenbraue heben, wenn er im Lebensmittelladen seine zehnstellige Personennummer angeben muss, nur um eine schnöde Kundenkarte mit ähnlich mageren Vergünstigungen zu bekommen, wie sie hierzulande üblich sind.
Angesichts unserer fast neurotischen Datenschutzbedenken bekämen nicht wenige Deutsche Schnappatmung. Zumal dann das Bezahlen mit Bargeld auch noch verpönt zu sein scheint, weil es so unpraktisch ist. In dieser Hinsicht liegen zwischen Deutschland und Schweden mentalitätsmäßig nicht nur Welten, sondern Galaxien.
Manchmal ist das ärgerlich, denn im Schweden des Jahres 2025 geht für Ausländer manches nicht so smooth wie für die Einheimischen: Die können sich mit ihrer BankID-App ausweisen und mit der nationalen Paypal-Alternative Swish bezahlen, wo Gäste nach einer Extrawurst fragen müssen. In einer Gesellschaft, in der schon jemand kühle Blicke zugeworfen bekommt, weil er ein wenig zu laut in der U-Bahn telefoniert, kann es schnell unangenehm werden, so viel Aufhebens um seine exklusiven Ausländer-Probleme zu machen.
Da will man lieber schweigsam sein wie die Schweden. Und hoffen, dass in der Stille unsere schöne Idealvorstellung von diesem vermeintlich so geräuschlos funktionierenden Land so bleiben kann, wie sie ist.
rnd