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Afstandsmoeders | Folgenschwerer Kindesentzug

Afstandsmoeders | Folgenschwerer Kindesentzug
Tausende Frauen in den Niederlanden mussten ihre Kinder zur Adoption freigeben.

Minderjährig, unverheiratet, verwitwet: Es gab viele Gründe, warum Frauen noch vor einigen Jahrzehnten das Recht und die Fähigkeit abgesprochen wurden, ihre eigenen Kinder selbst aufzuziehen. Sex war damals noch ein Tabuthema, Abtreibungen waren nicht möglich – Adoptionen ab 1956 aber schon. Die Folge war, dass vor allem Teenager-Schwangerschaften in Mutter-Kind-Heimen endeten. Dorthin wurden die jungen Frauen von ihren Familien gebracht, oft mit Unterstützung der Kirche, bevor eine Schwangerschaft zu offensichtlich werden konnte.

Sie blieben dort bis zur Geburt, die oft brutal verlief. Der untere Teil des Körpers wurde mit einem Tuch verhängt, und der Säugling wurde sofort nach der Geburt weggetragen. Die jungen Mütter durften ihre Babys weder halten noch stillen. Viele wussten nicht einmal, ob sie einen Jungen oder ein Mädchen zur Welt gebracht hatten. Das sollte eine Suche nach dem Kind möglichst unterbinden. Anschließend kamen die Kinder zu Adoptivfamilien.

Eine der betroffenen Frauen ist Will van Sebille. Im Jahr 1967 ist sie 17 Jahre alt und wird schwanger. Aus Angst vor der gesellschaftlichen Ächtung wenden sich ihre Eltern an das katholische Büro »Mutterhilfe«. Van Sebille wird in ein Heim für unverheiratete Mütter gebracht, umgangssprachlich das »Heim für gefallene Mädchen«. Sie erinnert sich an die anderen jungen Frauen vor Ort: isoliert und völlig überfordert mit der Situation.

Van Sebille bringt ihr Baby zur Welt und wird danach wieder nach Hause geschickt. Sie soll ihr gewohntes Leben weiterführen. Um ihren emotionalen Zustand oder gar ihre Wünsche kümmert sich niemand. In den 90er Jahren wagt sich die Frau schließlich in die Öffentlichkeit. Sie wirkt bei der Fernseh-Dokumentation »In aller Stille« mit, in der sie mit einem Kamerateam das Mutter-Kind-Heim von damals besucht, ist Ko-Autorin des Buches »Weggegangen, Platz vergangen« und gründet die Stiftung »De Afstandsmoeder« für leibliche Mütter, die von ihren Kindern getrennt wurden.

Erst 2016 wird an der Radboud-Universität Nijmegen eine erste wissenschaftliche Untersuchung zu den »Distanz-Müttern« durchgeführt. Danach sind mehr als 15 000 Frauen in den Niederlanden betroffen. Drei Jahre später folgt eine zweite Untersuchung mit einer Meldestelle für betroffene Eltern und Kinder. Insbesondere die Beteiligung verschiedener Organisationen und die Rolle der Regierung werden beleuchtet.

2020 kommen in den niederländischen Medien gravierende Mängel dabei zur Sprache. So wurden beispielsweise Personen aus den Akten ohne Vorwarnung kontaktiert und befragt, unter anderem von einer Organisation, die früher selbst an den Adoptionen beteiligt war. Inzwischen hat die Regierung schwerwiegende Fehler bei der Studie eingeräumt und nachgebessert.

Im Juni 2020 klagt Trudy Scheele-Gertsen wegen unrechtmäßiger Wegnahme des Kindes gegen den niederländischen Staat. 2022 wird ihre Klage abgewiesen, doch sie geht in Berufung. Auch »Afstandskinder«, die mittlerweile erwachsen sind, haben den Kampf um Aufklärung aufgenommen. Viele machen sich erst nach dem Tod der Adoptiveltern auf die Suche nach ihren leiblichen Müttern.

Im Juni 2025 erschien der Report »Schaden durch Schande«. Eine unabhängige Kommission hat drei Jahre lang rund 300 Interviews geführt mit Betroffenen – Müttern, Kindern, Vätern, Adoptiveltern – und zahlreiche Akten studiert. An den Teilprojekten waren das Internationale Institut für Sozialgeschichte, die Universität Maastricht und das Frauen-Institut Atria beteiligt.

Der Kindesverzicht geschah demnach nicht selten auf familiären Druck hin, wobei die uneheliche Schwangerschaft als Schande betrachtet wurde. Ebenso wirkten institutionelle und psychiatrische Zwänge – mit gravierenden Folgen bis heute. Anerkannt wird das Leid bisher nur auf dem Papier. Und im März 2025 urteilte das Berufungsgericht in Den Haag, dass die Fälle der Afstandsmoeders verjährt sind. Entschuldigungen vonseiten der Regierung, Möglichkeiten zur Akteneinsicht oder Entschädigungen sind derzeit nicht in Sicht.

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