Ein Inbegriff von Standhaftigkeit: Der Richtige hat diesen Preis erhalten

Am 19. Oktober wurde dem Historiker Karl Schlögel in der Frankfurter Paulskirche der renommierte Friedenspreis des Deutschen Buchhandels überreicht. Seine Dankesrede mit dem Titel „Von der Ukraine lernen. Verhaltenslehren des Widerstands“ rief kontroverse Reaktionen hervor. In unserer Debattenreihe „Pro und Contra“ greifen wir die Auseinandersetzung auf. An dieser Stelle folgt der Beitrag des Publizisten und Generals a.D. Klaus Wittmann. Die Einlassung des BLZ-Redakteurs Thomas Fasbender zum Thema lesen Sie hier.
Dass nach Anne Applebaum 2024 dieses Jahr mit Karl Schlögel erneut ein engagierter Befürworter militärischer Unterstützung der Ukraine den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, veranlasste eine Zeitung zu fragen: „Kann man damit Frieden stiften?“ Und bei einem Streitgespräch der Berliner Zeitung sagte mir ein Europa-Abgeordneter, die EU-Ermutigung der Ukraine zu weiterem Durchhalten sei „Beihilfe zum Mord“. Den „Mörder“ benannte er nicht.
Weit verbreitet ist bei diesem Krieg die Gleichsetzung von Aggressor und Angriffsopfer, während doch die Rollenverteilung seit 1945 selten so eindeutig war wie bei dieser Unterwerfungsoffensive Russlands gegen sein Nachbarland. Beim allgemeinen Wunsch, das Töten solle aufhören, muss klar sein, dass jede und jeder Tote dieses Kriegs auf Putins Konto geht. Wenn Russland aufhört zu schießen, ist der Krieg zu Ende, wehrt die Ukraine sich nicht länger, bedeutet das ihr eigenes Ende.
Putin hat die in Helsinki 1975 geschaffene und in Paris 1990 bekräftigte Sicherheitsordnung Europas zertrümmert: souveräne Gleichheit der europäischen Staaten, territoriale Integrität, Unverletzlichkeit der Grenzen, friedliche Streitbeilegung. Wenn er damit durchkommt, gibt Europa sich auf. Es hat die Wirtschaftskraft und die Mittel, ihm Einhalt zu gebieten, und muss endlich den konsequenten politischen Willen dazu aufbringen.
Putin wird in der Ukraine nicht haltmachenDenn Putin wird in der Ukraine nicht haltmachen. Sein Krieg ist verbrecherisch sowohl nach Motiv und Ziel (ius ad bellum) als auch hinsichtlich der Mittel (ius in bello). Und sein hybrider Krieg – mit Propaganda, Desinformation, Spionage, Cyberkampf, Sabotage usw. – gegenüber dem als feindlich verteufelten Westen wird immer intensiver.
Für alle, denen diese Entwicklungen Sorge machen und denen das Schicksal des überfallenen Volks am Herzen liegt, ist die Auswahl Karl Schlögels für den Friedenspreis ein Glücksfall. Er analysiert die Entwicklungen klarsichtig, er mahnt seit langem, die Ukraine nicht „nur mit russischen Augen zu betrachten“, er tritt für konsequente Unterstützung des tapferen ukrainischen Volkes ein. Das geschieht im Bewusstsein, dass Putins Russland „entschlossen [ist], die unabhängige und freie Ukraine von der Landkarte zu tilgen“. Angesichts ausbleibenden Eroberungserfolgs wird dazu immer brutaler die Bevölkerung mit Luftangriffen terrorisiert.
Neben erschütternder Blindheit gegenüber Putins Zielen zeigen viele Kritiker militärischer Ukraine-Unterstützung eine beschämende Empathielosigkeit gegenüber einem von Vernichtung bedrohten Volk. „Kein Wort kommt an die Bilder der Zerstörung heran“, beginnt ein Absatz von Schlögels Dankesrede, den man Wort für Wort nachlesen sollte. Putins kriminelle Kriegsführung und seine Lügennarrative müssen unablässig viel stärker angeprangert werden. Es gibt für die Invasoren keine „legitimen“ Ziele und für diesen Angriffskrieg keinerlei Rechtfertigung. Bei den vom Kreml als „root causes“ des Konflikts behaupteten Motiven (Naziregime in Kiew, Völkermord an Russen, Expansion der Nato in Verletzung angeblich gemachter „Zusagen“) handelt es sich um Propaganda.
Imperialismus, Revisionismus, Faschismus und anderes nennt Schlögel als Namen für „das Unheil, das Putins Russland über die Ukraine gebracht hat“. Bei der „Suche nach einem tieferen Sinn in der Putinschen Politik“ zitiert er: „Einkreisungsängste, Sicherheitsbedürfnis, Kampf um Anerkennung“ – also eher politisch-psychologische Befindlichkeiten als reale Sicherheits-„Interessen“. Revanchegelüst gehört dazu, und Putin treibt vor allem eine tiefe Angst vor der Ansteckung seines Volks mit dem „demokratischen Virus“.
Er agiert also aus Angst und zugleich mit Angst. Denn im Gegenzug ist nach Worten des Preisträgers „Angst (…) seine wichtigste Waffe“. Dass er besonders mit den Ängsten der Deutschen gekonnt spielt, hat die Zögerlichkeit bei deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine mitbewirkt. Zumal Putin seinen Krieg gegen die Ukraine als „Weiterführung des Großen Vaterländischen Krieges gegen den Faschismus umgelogen“ hat.
Putins Ziele gegenüber dem Westen verlautbarte er im Dezember 2021 in ultimativen Schreiben an Nato und USA. Sie würden russische Vorherrschaft und Wiederbelebung der Breschnew-Doktrin (beschränkte Souveränität von Satellitenstaaten) bedeuten.
Selbsttäuschung über die Unbesiegbarkeit RusslandsSo wie manche Zeitgenossen vor dem Wort „Kriegstüchtigkeit“ erschaudern (mit dem doch die Fähigkeit gemeint ist, glaubwürdig vor jederlei Angriff abschrecken und somit einen Krieg verhindern zu können), hängen sie sich am Schlusssatz von Schlögels Dankesrede auf: „Uns Europäern bleibt (…) von der Ukraine lernen, heißt furchtlos und tapfer zu sein, vielleicht auch siegen lernen.“
Die Befremdung hierüber zeigt Selbsttäuschung über die „Unbesiegbarkeit“ Russlands. Dieser Nimbus ist jedoch mit dem Verfehlen von Putins ursprünglichen Kriegszielen dahin – und erst recht seit der ukrainischen Kursk-Offensive und der völlig hilflosen Reaktion auf diese erstmalige militärische Besetzung russischen Bodens seit 1945.
Sieg über Russland in diesem Krieg bedeutet ja nicht seine Zerstörung oder Besetzung, sondern allein den Zwang zum Abzug der Invasoren. Das ist immer noch denkbar, hängt aber von uns ab. Der Krieg ist für die Ukraine noch nicht verloren, wie die russische Propaganda glauben machen will. Fallen wir nicht darauf herein!
Kein Wille Putins zu Waffenstillstand, geschweige denn Frieden ist erkennbar. Diplomatie ist für ihn Mittel zur Kriegführung und zum Zeitgewinn, während er Verhandlungsbereitschaft nur vortäuscht und Präsident Trump zum Narren hält. Die Bedingungen, die er für einen Waffenstillstand nennt, bedeuten Kapitulation der Ukraine: Neutralität, Hergabe der Krim und der vier bereits „annektierten“ (aber nur teilweise besetzten) Oblaste, „Entnazifizierung“ (also Etablierung eines Marionettenregimes) und Entmilitarisierung. All dem stellt Karl Schlögel sich entgegen.
Geradezu panische russische ReaktionWer auf westlicher Seite von oben herab verkündet, ohne „Gebietsabtretungen“ werde es für die Ukraine nicht abgehen, verkennt, dass „abzutretende“ Gebiete keine abstrakten Landstriche sind, sondern die Heimat von Millionen ukrainischer Menschen, die unter russischer Besatzung brutalste Russifizierung erleben. Da ist es reine Illusion, jetzt die „neuen territorialen Gegebenheiten“ nur de facto anzuerkennen, nicht de iure, und ihren Status später regeln zu wollen.
Und völlig falsch ist die von einem Autor kürzlich hergestellte Alternative „Staatskunst statt Raketen“. Welche „Staatskunst“ soll man gegenüber dem besessenen und intransigenten russischen Despoten anwenden, der ständig seine zerstörerischen Maximalziele bekräftigt? Aber sehr aufschlussreich ist die geradezu panische russische Reaktion auf die amerikanische Andeutung möglicher Abgabe des Marschflugkörper Tomahawk an die Ukraine. Hätte sich Trump im Telefongespräch nicht wieder von Putin um den Finger wickeln lassen, so wäre das vielleicht geeignet gewesen, diesen an den Verhandlungstisch zu zwingen. Also „Diplomatie und Waffen“ – im Bewusstsein der Rolle, die Diplomatie in den Händen dieses durchtriebenen KGB-Mannes spielt.
Jenseits des Ukraine-Kriegs urteilt Schlögel auch hellsichtig über die Veränderungen in der Weltordnung – die ja Putin und Xi Jinping umgestalten wollen, aber nicht im freiheitlichen Sinn – und über die Gefahren, die Europa drohen, sollte Putin in der Ukraine siegen oder auch nur einen faulen Frieden erzielen und die USA endgültig aus Europa herauskomplimentieren.
Sicherheit vor anstatt mit RusslandDer Autor dieses Textes war viele Jahre mit der Herstellung kooperativer Sicherheit zwischen der Nato und Russland befasst. Dass Sicherheit vor anstatt mit Russland wieder im Vordergrund steht, ist Putin zuzuschreiben.
Schlögels Laudatorin Katja Petrowskaja zitierte ihn bereits aus dem Jahr 2015: Der Angriff (…) „gilt nicht nur der Ukraine. Was dort auf dem Spiel steht, ist Europa, ist der Westen (…), eine Lebensform, die Putin und seinesgleichen als Bedrohung empfinden.“
Einen „Inbegriff von Standhaftigkeit“ nannte sie ihn. Daran sollten sich viele ein Beispiel nehmen. Der Richtige hat diesen renommierten Preis erhalten.
Berliner-zeitung




