Fachkräftemangel: Sind junge Menschen zu faul?




Auszubildende in der Elektroindustrie: Zahl der geleisteten Arbeitsstunden nur knapp unter dem Rekordwert
Foto: Rupert Oberhäuser / picture allianceUnter Marktwirtschaftlern und in den Wirtschaftswissenschaften wurde über Jahrzehnte das Credo der Entscheidungsfreiheit hochgehalten. Menschen sollen die Möglichkeit haben, sich – im Rahmen der vom Gesetz auferlegten Grenzen – ihren Präferenzen gemäß zu verhalten und die Kräfte des Marktes würden dann zu einem optimalen Ergebnis führen. Es werden dann genau die Güter und Dienstleistungen produziert, die benötigt werden.
Die Präferenzen der Menschen erstrecken sich auf praktisch alles, religiöse oder spirituelle Werte, auf das Recht, gesund oder ungesund zu leben, und auch auf den optimalen Mix aus Arbeit und Freizeit. Bei diesem letzten Punkt scheinen jetzt viele Beobachter von der Entscheidungsfreiheit nicht mehr so viel wissen zu wollen. Kanzler Friedrich Merz mahnte in seiner Regierungserklärung, die Menschen in Deutschland müssten „wieder mehr arbeiten“. In Teilen von Politik und Wirtschaft wird gerne gelästert, wenn sich junge Menschen über „Work-life-Balance“ Gedanken machen, von Faulheit ist die Rede, der Spruch „früher hätte es das nicht gegeben“ ist immer häufiger zu hören.
Ja, was denn nun? Sollen Konsumenten ihren Präferenzen gemäß leben können, oder soll der Staat den jungen und weniger jungen Menschen vorschreiben, wie viel sie zu arbeiten haben und wie viel ihnen Freizeit wert sein darf?
Entscheidungsfreiheit infrage gestelltEigentlich plädieren Unternehmen doch immer dafür, Verbote und Lenkungssteuern zu vermeiden, stattdessen müsse man den Konsumenten machen lassen. Wenn der Staat beispielsweise bestimmte Lebensmittel höher besteuern, mit einer Gesundheitsampel versehen oder gar verbieten möchte, gibt es von der Wirtschaft in der Regel heftige Gegenwehr. Gern genanntes Argument ist dann: „Das können doch die Konsumenten festlegen, ob sie das Produkt kaufen wollen oder nicht“. Warum soll das nicht in Bezug auf eine der wichtigsten Entscheidungen im Leben gelten, der Arbeit?
Die geläufige Argumentation zugunsten von höheren Arbeitszeiten ist, dass Deutschland im internationalen Wettbewerb zurückfällt, wenn die Menschen ihre Arbeitszeit verkürzen. Anders gewendet: Die Produktivität pro Arbeitskraft sinkt, Unternehmen schauen sich daher nach Standorten um, wo die Menschen mehr zu arbeiten bereit sind. Das Problem sei angesichts des Arbeitskräftemangels in Deutschland umso dringender.
An dieser Stelle kommt man zum Kern der Appelle und Seitenhiebe auf die Menschen, die sich gegen eine 40- oder 50-Stundenwoche entscheiden. Es wird offensichtlich vergessen, dass wir heute in einer anderen Welt leben als früher. In den 1990er und 2000er Jahren war die Arbeitslosenrate hoch, die Verhandlungsposition der Menschen am Arbeitsmarkt war ungünstig. Dann wurde die Arbeitslosigkeit durch Reformen und die demografische Entwicklung reduziert, es kam zunehmend zu Arbeitskräftemangel. Das hat die Arbeitnehmer gestärkt. Arbeitgeber bieten ihnen an, in Teilzeit, ein oder mehrere Tage im Home-Office zu arbeiten und sonstige Flexibilitäten zu genießen. Nicht weil sie plötzlich empathisch geworden sind (das müssen gute Unternehmer:innen ohnehin sein), sondern weil die Marktkräfte genau diese Flexibilität verlangen.
Denn ohne diese Angebote würde sich die betroffenen Arbeitnehmer bei Wettbewerbern umschauen. Die Menschen sind also nicht plötzlich faul geworden, sondern treffen im Wechselspiel zwischen angebotenen Löhnen, weichen Faktoren und ihren Präferenzen für die als wünschenswert empfundene Mischung aus Arbeit und Freizeit eine Wahl – und diese fällt anders aus als vor 20 Jahren.
Es wird mehr und nicht weniger gearbeitetDie Statistiken stützen diese These und widersprechen der Behauptung, die Menschen in Deutschland seien zunehmend arbeitsscheu. Das Gegenteil ist der Fall. Zwar liegt die durchschnittliche Arbeitszeit von Arbeitnehmer:innen mit 1332 Stunden pro Jahr (Sozialversicherungspflichtige Beschäftigte und Selbstständige, Quelle: IAB) auf einem im globalen Vergleich sehr niedrigen Niveau. Gleichzeitig ist aber der Anteil der Menschen in Arbeit an den Menschen zwischen 25 und 65 Jahren so hoch wie in nur wenigen Ländern – höher als etwa in den USA und Großbritannien, getoppt unter anderem von den Niederlanden und Japan.
Dazu passt, dass die Anzahl der Beschäftigten 2024 einen neuen Rekordwert erreicht hat und das Volumen der geleisteten Arbeitsstunden nur 1,2 Prozent unter dem Rekordwert aus dem Jahr 2019 liegt.
Ungerechtes SteuersystemMeckern ist nicht gerechtfertigt. Viele Menschen wollen mehr arbeiten, aber die Bedingungen dafür sind häufig schlecht. Das fängt damit an, dass Eltern um Betreuungsplätze in der Kita und für die Nachmittage in der Grundschule regelrecht kämpfen müssen, oft ohne Erfolg. Es geht weiter mit steuerlichen Fehlanreizen. So steigt der Grenzsteuersatz im Bereich zwischen 12.096 Euro und 68.480 Euro von 14 Prozent auf 42 Prozent relativ steil an, was bedeutet, dass in diesem Bereich zusätzliches Einkommen zu einem größer werdenden Teil wegbesteuert wird.
Hier wäre eine Streckung möglich, in dem der Spitzensteuersatz erst ab einem höheren Niveau gilt und der Negativanreiz zur Mehrarbeit reduziert wird. Schließlich ist die Idee der abschlagsfreien Rente mit 63 (bei 45 Einzahlungsjahren) ebenfalls wenig hilfreich, um der Demografie die Stirn zu bieten.
Deutschland steht zweifellos vor gewaltigen Herausforderungen. In den nächsten zehn Jahren werden 20 Millionen Babyboomer in Rente gehen, nur 13 Millionen Menschen rücken in diesem Zeitraum in den Arbeitsmarkt nach, sodass grundsätzlich mit einer Lücke am Arbeitsmarkt von sieben Millionen Personen zu rechnen ist. Den daraus entstehenden Arbeitskräftemangel wird man partiell mit einer Abmilderung bei den oben genannten Defiziten beseitigen können, also Betreuungsangebot für Kinder verbessern sowie eine beschäftigungserhöhende Steuer- und Rentenreform durchführen.
Weitere Stichworte sind Digitalisierung, Automatisierung und die Nutzung von KI - hier ist vor allem der Einfallsreichtum der Unternehmen gefordert. All das wird aber nicht genügen. Ohne gezielte Zuwanderung und die Verbesserung der Bedingungen für die Arbeitsaufnahme von Geflüchteten wird es nicht funktionieren. Die Forderung nach einer generellen Vier-Tage-Woche ist hingegen abwegig.
Es ist eine gesellschaftliche Errungenschaft, dass die Menschen in unserem marktwirtschaftlichen System eine relativ große Wahlfreiheit auch in Bezug auf ihre Arbeitszeit haben. Dass diese Flexbilität gut genutzt wird, unterstreicht die Kombination eines Rekordstands in der Beschäftigung und hoher Teilzeitquote. Dass die Wettbewerbsfähigkeit dennoch (!) gefährdet ist, liegt an der demografischen Entwicklung, die bei uns besonders rasch zu einer Reduktion der arbeitsfähigen Bevölkerung führt. Regierung und Unternehmen können in den kommenden Jahren gegensteuern. Genau das werden sie vermutlich tun, da sie feststellen dürften, dass populistische Sprüche über „Work-life-balance“ und reine Appelle mehr zu arbeiten ins Leere laufen.
Cyrus de la Rubia ist Gastkommentator von manager-magazin.de. Trotzdem gibt diese Kolumne nicht notwendigerweise die Meinung der Redaktion des manager magazins wieder.
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