Im Hausarrest der Vernunft: Vom Studieren und Schweigen in der Pandemie

Plötzlich war die Welt eine andere. Ohne Ankündigung, ohne Übergangszeit. Man versteckte sich vor etwas, das man nicht sehen konnte. Die Straßen waren leer, die Fenster voller Gesichter. Draußen das Virus, drinnen die Stille. Wir waren eingesperrt, ohne etwas getan zu haben – im Hausarrest „der Vernunft“.
Manchmal denke ich, das Schlimmste war nicht die Einsamkeit, sondern der Kontrollverlust. Zu Hause zu sitzen, während andere über dein Leben bestimmten. Nicht krank zu sein und trotzdem stillzuhalten. Sich Regeln zu beugen und jeden kritischen Gedanken im Keim zu ersticken. In genau dieser Zeit begann mein Studium. Die Zeit meines Lebens. Ein Beginn ohne Anfang.
Ein Alltag ohne Ereignis. Ein Leben ohne Verlauf.Damals zog ich in eine mir fremde Stadt. Ich kannte niemanden. Meine Familie und mich trennten über 500 Kilometer. Der Campus war gesperrt, die Mensa geschlossen, das Studium eine Abfolge von Zoom-Links und PDF-Dateien. Meine erste Seminargruppe bestand aus zwanzig schwarzen Kacheln und einer Ansage: „Mikrofone bleiben aus, sonst wird das hier zu chaotisch.“
Kein Lächeln, kein Kennenlernen, kein Stuhl, der über den Boden scharrte. Nur das Summen des eigenen Laptops. In den Küchen stapelten sich Kaffeetassen, im Kopf die Tage. Es war ein Alltag ohne Ereignis. Ein Leben ohne Verlauf.
Die „beste Zeit meines Lebens“ hatte ich mir eigentlich anders vorgestellt. Turbulent und laut, dynamisch und lebensfroh. Irgendwas zwischen Hörsaal und Kneipentour. Die Pandemie-Realität war eine andere.
Vier Semester lang war mein Studium ein Ort, den es nicht gab. Meine Wohnung wurde zum universalen Zentrum – Leben, Lernen und Studieren auf dreißig Quadratmetern. Trotz dieser Umstände kam ich zurecht. Viele andere nicht. Während Disziplin mein Motor war, versanken andere in der Überforderung.
Erst auf der Zielgeraden, am Ende meines Studiums, betrat ich zum ersten Mal den Campus. Ich stand in einem Hörsaal, umgeben von fremden Menschen. Wer ohne Maske den Saal betrat, wurde postwendend nach Hause geschickt.
Studenten mussten negative Tests vorlegen, später Impfnachweise. Manche Bundesländer führten für Universitäten eigene Verordnungen ein, mit Zugangsverboten für Ungeimpfte und streng kontrollierten Einlasssystemen.
Ausgerechnet die, die sich von der Schule in die Freiheit aufmachen wollten, wurden zu Versuchskaninchen einer kontrollierten Normalität. Abstand halten, ja nicht zusammensitzen, sich fernhalten – das war die unausgesprochene Studienordnung dieser Zeit.
„Im Studium findest du Freunde fürs Leben“ – das hat meine Mutter immer gesagt. Und meistens hat sie recht. Nur diesmal nicht. Ich fand keine Freunde, nur zwei Bekanntschaften, die sich längst verflüchtigt haben.
Pandemie-Dreiklang: Depressionen, Erschöpfung, ÜberforderungDie Jahre der Isolation haben Spuren hinterlassen, nicht nur in Lebensläufen, sondern im Kopf. Depressionen, Erschöpfung, Überforderung. Studien belegen heute, was viele damals vermuteten oder längst wussten: Die Corona-Pandemie hat nicht nur Jahre genommen, sie hat etwas zurückgelassen: tiefe seelische Löcher, die sich nicht von heute auf morgen stopfen lassen.
Untersuchungen des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung zeigen, dass fast die Hälfte aller „Corona-Studenten“ unter Kontaktproblemen litt. Vor der Pandemie war es nur etwa ein Drittel. Der Anteil derer, die depressive Verstimmungen angaben, stieg von 32 auf 46 Prozent.
Laut DAK-Gesundheitsreport blieb die Zahl psychischer Erkrankungen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen deutlich über dem Vorkrisenniveau, selbst nachdem Masken und Lockdowns längst Geschichte waren. Die Techniker Krankenkasse kam 2023 zu ähnlichen Ergebnissen: 35 Prozent der Studenten fühlten sich weiterhin durch die Folgen der Pandemie psychisch belastet, 29 Prozent nannten Einsamkeit als ständigen Begleiter. Und bereits 2022 meldete das Robert-Koch-Institut, dass jeder dritte junge Erwachsene Symptome einer depressiven Verstimmung zeigte. Doppelt so viele wie vor der Pandemie.
Die HIS-HE-Studie von 2024 nennt dieses Phänomen eine „Entkopplung vom studentischen Selbst“. Fast drei Viertel der Studienteilnehmer gaben an, sich während der Corona-Zeit kaum als „echte Studenten“ gefühlt zu haben. Das Zuhause war plötzlich alles zugleich: Lernort, Rückzugsort, Arbeitsplatz, manchmal auch Gefängnis. Der Campus, der sonst Begegnung bedeutete, wurde zum Symbol des Unerreichbaren.

Ich erinnere mich daran, wie sich diese Leere anfühlte: wie aus Tagen Wochen und aus Wochen Semester wurden. Wie Menschen, die man nie getroffen hatte, einfach wieder verschwanden. Wie man sich in der Stille organisierte, während andere an ihr zerbrachen. Manche schafften es nicht, ihr Studium fortzusetzen, andere verloren einfach die Lust am Leben, das nur noch aus Bildschirmen bestand.
Psychologen sprechen rückblickend von einer „verlorenen Lebensphase“. Von jungen Menschen, die in entscheidenden Jahren, in denen sie sich selbst suchen, nur eines fanden: Hoffnungslosigkeit. Die COPSY-Studie (Corona und Psyche) des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf beschrieb schon 2021, dass 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen psychische Auffälligkeiten zeigten. Vor der Pandemie waren es nur 18 Prozent.
Die vergessene GenerationViele suchten erst spät Hilfe. Hochschulpsychologische Beratungsstellen berichteten 2022 von Wartezeiten von bis zu drei Monaten, so groß war der Andrang. Gleichzeitig wurden soziale Räume – Seminare, Cafés, Wohnheime – so stark reglementiert, dass spontane Begegnungen kaum noch möglich waren.
Diese Zahlen erzählen eine Geschichte, die weit über Statistik hinausgeht: von einer Generation, die erwachsen wurde in einer Atmosphäre aus Kontrolle und Unsicherheit. Während andere über Öffnungen, Wirtschaftshilfen und Impfquoten stritten, saß eine ganze Altersgruppe still da. Brav, vernünftig und letztlich vergessen.
Die Spuren dieser Jahre ziehen sich weiter. Bis heute ist „die Jugend“ ein unsichtbarer Akteur. Die Bundesregierung nimmt Milliardenschulden auf, streitet über Rentenpakete und Wehrpflicht. Am Tisch sitzen Herrschaften einer Generation, die sich nie mit den Konsequenzen ihrer Entscheidungen konfrontiert sehen werden. Bereits in der Pandemie wurde nur über, aber nicht mit uns gesprochen.
Ich erinnere mich an Abende, an denen ich durch die leere Innenstadt ging, mit Maske im Freien, weil sie auch dort vorgeschrieben war. Ich dachte an all die Menschen, die gerade irgendwo dasselbe taten und trotzdem niemandem begegneten. Diese Gleichzeitigkeit der Isolation war vielleicht das Merkwürdigste. Gemeinsam allein.
Disziplin ist kein Zwang, sondern ein ÜberlebenswerkzeugMittlerweile ist meine Uni-Zeit nur noch eine Erinnerung. Aber manchmal, wenn ich Studentengruppen sehe, wie sie gemeinsam lachen, diskutieren, unbeschwert und glücklich sind, denke ich: Das hätte auch meine Zeit sein sollen. Die Jahre, in denen man sich ausprobiert, zweifelt, mit anderen streitet.
Stattdessen habe ich gelernt, mit mir selbst zu reden. Heute weiß ich, dass auch darin eine Form von Stärke liegt. Dass Disziplin kein Zwang, sondern ein Überlebenswerkzeug sein kann. Und trotzdem ist solch eine Stärke kein Trost. Sie ist das, was bleibt, wenn es dunkel wird.
Berliner-zeitung




