Katja Hoyer: „Die Demokratie rettet man nicht, indem man ihr den Diskurs entzieht“

Das Sommerinterview von Alice Weidel ging in Gebrüll unter, im Bundestag johlt die AfD bei Reden von Kanzler Merz. Hält wirklich niemand mehr andere Meinungen aus?
„Die AfD hat keinerlei Anrecht auf ein Sommerinterview“, sagt Philipp Ruch, der Leiter des Zentrums für Politische Schönheit, das letzten Sonntag den Auftritt der AfD-Co-Chefin Alice Weidel in der ARD gestört hatte. Er meldete sich in einem Welt-Interview zu Wort, das im Gegensatz zu Weidels „vollkommen ungestört“ ablief. Ruch glaubt fest daran, dass er selbst das Recht auf freie Meinungsäußerung hat, das er Weidel abspricht.
Sein Argument? „Es bringt unsere Gesellschaft nicht mehr weiter, über Aussagen der AfD zu diskutieren“, warum sollte die ARD ihr also Sendezeit einräumen? Die Partei und ihre Protagonisten sollen einfach irgendwie weg, egal wieviele Millionen sie gewählt haben. Da das Parteiverbot noch in den Sternen steht, nahm Ruchs Verein die Durchsetzung eines Redeverbots für AfD-Politiker schon einmal selbst in die Hand, indem er Weidels Sommerinterview mit Hilfe von Lautsprechern massiv störte.
Ruch plädiert schon länger für einen „aggressiven Humanismus“, der politische Gegner mit härteren Bandagen bekämpft als mit Argumenten, weil „der Kampf um Menschenrechte viel zu höflich geführt“ werde. Menschenrechte schütze man nicht mit einer „übertriebenen, beinahe unerträglichen Nettigkeit“, sondern damit, „Streiks zu organisieren, Straßen zu blockieren, Politiker zu beschimpfen und Nachrichtensender zu besetzen.“ Ein Ergebnis dieser Logik war das gestörte Interview letzten Sonntag.
Andere Meinungen? Unerträglich!Warum Ruchs Organisation – die laut eigenen Angaben mit weniger als 100 Personen, gestützt von einem Kreis aus rund 3000 privaten Spendern arbeitet – bestimmen darf, wie, wann und ob die Co-Chefin der größten Oppositionspartei im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu hören ist, muss scheinbar nicht erklärt werden. Er hat eben einfach recht, und wenn er sagt, der AfD stünden die Menschenrechte, für die er nicht kämpft, nicht zu, dann ist das eben so.
Philipp Ruch ist keinesfalls allein mit solchen Ansichten. Viele Menschen finden es offenbar unerträglich, sich andere Meinungen anzuhören und darauf mit Argumenten zu reagieren. Das nimmt auch die AfD selbst nicht aus. Während der Generaldebatte zu Beginn der Haushaltswoche vor zwei Wochen störte ihre Fraktion die Rede von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) mit rund 70 Zwischenrufen und lautem Gejohle. Das Ganze erreichte einen so hohen Pegel, dass Weidel und ihre Abgeordneten teilweise die Szene dominierten und Merz seine Ausführungen unterbrechen musste.
Dass mittlerweile viele Leute Mitmenschen mit anderen Meinungen lieber übertönen, einschüchtern oder zum Schweigen bringen wollen, als sich mit ihnen inhaltlich auseinanderzusetzen, erlebt jeder, der sich in der Öffentlichkeit bewegt. Um mal ein banales Beispiel zu geben, wie es Journalisten jeden Tag passiert: Auf meine Kolumne über den Niedergang der SPD vor zwei Wochen schrieb mir ein Leser, der Artikel sei „unerträglich“ gewesen. Ein weiterer beschwerte sich darüber, dass meine Kolumnen insgesamt „tendenziös“ seien. Beide gingen mit keinem Satz auf den Inhalt ein.
Natürlich sind Kolumnen „tendenziös“Was sich hier offenbart, ist das grundsätzliche Problem, das den öffentlichen Diskurs behindert: die abnehmende Resilienz, andere Meinungen auszuhalten und zu durchdenken. Natürlich sind meine Kolumnen „tendenziös“. Das ist das Hauptmerkmal aller Kolumnen. Deshalb erscheinen sie ja unter „Meinung“ in der Zeitung. Diese Meinung kann dann unterstützt, abgelehnt, diskutiert oder ignoriert werden.
Nicht im Sinne einer offenen, demokratischen Gesellschaft ist es, die Äußerung abweichender Meinungen nicht „ertragen“ oder gar unterbinden zu wollen. Wenn man den Äußerungen anderer mit einer solchen emotionalen Abneigung begegnet, dass man aufhört, sich inhaltlich damit auseinanderzusetzen, was die „andere Seite“ zu sagen hat, hört man auch auf zu verstehen, warum sie so denkt, wie sie denkt. Das treibt die Polarisierung der Gesellschaft voran, bis sie irgendwann bei amerikanischen Verhältnissen ankommt.
Alice Weidel sollte ihre Positionen genauso kundtun dürfen wie Friedrich Merz, Philipp Ruch oder die Kolumnisten der Berliner Zeitung. Es hört sich immer ein bisschen klischeehaft an, wenn man sagt, dass Demokratie von einer funktionierenden Diskurskultur lebe, aber es ist so. Was Ruch und sein Zentrum als „beinahe unerträgliche Nettigkeit“ ablehnen, ist genau die zivilisierte Streitkultur, mit der wir jeden Tag Politik und Gesellschaft neu aushandeln.
Das galt auch lange als die Norm, die wir unseren Kindern vermitteln wollten. Ich kann mich noch gut daran erinnern, in den späten 1990er-Jahren im Deutschunterricht das Schreiben von „Leserbriefen“ geübt zu haben. Der Lehrer erklärte, dass man zunächst den Artikel gründlich liest und die darin enthaltenen Argumente und Beispiele identifiziert. Dann schreibt man einen sachlichen Brief, der mit einer förmlichen Anrede beginnt, auf den Artikel bezugnimmt und die eigene Meinung darlegt, gegebenenfalls mit Gegenargumenten. Es gab Punktabzug für Unsachlichkeit und ganz schlechte Noten, wenn man „am Thema vorbei“ schrieb.
Erstmal zuzuhören, erfordert emotionale SelbstdisziplinHeute wird genau Letzteres belohnt. Wer provokante Formeln oder auch Beschimpfungen ins Internet haut, bekommt Klicks und „Likes“, die sich nicht nur durch die Ausschüttung von Dopamin im Gehirn gut anfühlen, sondern längerfristig auch die Reichweite erhöhen und damit Einfluss und Einkommen schaffen. Dagegen ist das Lesen oder Anhören anderer Meinungen unangenehm und scheint keinen persönlichen Nutzen zu haben. Niemand würde über Philipp Ruch sprechen, wenn er am Sonntag ein paar Straßen weiter eine Kundgebung organisiert hätte, in der er erklärt hätte, warum Alice Weidel seiner Meinung nach Unrecht habe.
Vielleicht bin ich naiv zu glauben, dass eine zivilisierte und gründliche Art des Meinungsaustauschs im Zeitalter der sozialen Medien und viraler Kurzvideos Bestand haben kann. Gehört wird, wer laut schreit, provokant zuspitzt oder ganz einfach die andere Seite beschimpft. Dem anderen erstmal zuzuhören erfordert dagegen emotionale Selbstdisziplin, und Gegenargumente lassen sich schlecht in 280 Zeichen oder 30 Sekunden erläutern.
So schwer es auch sein mag, ich plädiere dennoch dafür, den Kampf um Positionen weiter höflich zu führen. Natürlich dürfen Diskussionen heftig ausfallen, aber dazu müssen sie ja erstmal stattfinden und nicht überbrüllt oder unterbunden werden. Wer im Namen einer humaneren Gesellschaft anderen den Mund verbieten will, wandelt auf einem ganz dunklen Pfad. Die Demokratie rettet man nicht, indem man ihr den Diskurs entzieht. Der ist nämlich ihre Lebensgrundlage.
Berliner-zeitung