Kritik an der israelischen Regierung ist kein Antisemitismus – wo Die Linke recht hat

Die Historikerin Miriam Rürup und der Jurist Ralf Michaels bewerten den Beschluss, mit dem Die Linke sich der Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus angeschlossen hat. Ein Gastbeitrag.
Derzeit wird wieder über das Verhältnis der Partei Die Linke zum Antisemitismus debattiert. Auslöser ist die Entscheidung des Parteitags vom 9. bis 10. Mai in Chemnitz, die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus (JDA) als Leitfaden im Kampf gegen Antisemitismus zu übernehmen.
Die JDA wurde von Wissenschaftlern als Reaktion auf die IHRA-Arbeitsdefinition (International Holocaust Remembrance Alliance) von Antisemitismus entworfen. Diese Arbeitsdefinition wird vom Zentralrat der Juden in Deutschland und auch von der Bundesregierung unterstützt. Zentralratspräsident Josef Schuster sagte, der Beschluss der Linken zur JDA belege, dass die Partei von „Israelhass“ getrieben sei.
Die Historikerin Prof. Dr. Miriam Rürup, Direktorin des Moses-Mendelssohn-Zentrums in Potsdam, und der Jurist Prof. Dr. Ralf Michaels, Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, bewerten in einem Gastbeitrag für die Berliner Zeitung den Beschluss der Partei Die Linke und die Reaktionen darauf.
„Antisemitismus und Rassismus gemeinsam bekämpfen. Gegen Geheimdienstkontrollen, Personenüberprüfungen, Bekenntniszwänge. Gegen autoritäres staatliches Vorgehen, gegen ein Klima der Angst, gegen Zensur und Repressionen kritischer Äußerungen zur Unterstützung israelischer Kriegsverbrechen und zur Politik israelischer Regierung.“
So lauten die Inhalte eines Beschlusses, den Die Linke bei ihrem Parteitag mit knapper Mehrheit gefasst hat. Im Wesentlichen enthält er also klassische linke und nicht einmal besonders radikale Positionen. Insbesondere wird Kritik nicht pauschal gegen Israel gerichtet, sondern nur gegen israelische Politik und Gewaltanwendung.
Dennoch sind die Reaktionen aufgebracht. „Antisemitismus: Skandalbeschluss bei der Linken“, meint die Bild-Zeitung. Der Zentralrat der Juden in Deutschland konstatiert „einen radikalen Kern der Partei, der – getrieben von Israelhass – dazu beiträgt, Antisemitismus unserer Zeit zu verschweigen“. Die Werteinitiative erklärt, nun sei mit der Linken „keine Zusammenarbeit möglich“. Auch aus den Reihen der Partei selbst gibt es Kritik und Bedenken.
Die JDA verdient die heftigen Vorwürfe nichtDie heftige Reaktion erklärt sich nicht aus der inhaltlichen Positionierung, sondern daraus, dass der Beschluss sich gegen ein nachgerade zum Fetisch geronnenes Element der deutschen Staatsräson wendet: die IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus, die von Bundes- und Landesregierungen sowie vielen Organisationen angenommen wurde. Er unterstützt stattdessen die Jerusalem Declaration on Antisemitism (JDA).
Über beide Dokumente wird viel Falsches kolportiert. Inhaltlich unterscheiden sie sich nicht so fundamental, wie manchmal behauptet wird. Beide verbinden allgemeine Definitionen von Antisemitismus mit Regelbeispielen, vornehmlich mit Bezug auf Israel, und fordern eine kontextbezogene Einzelfallbetrachtung. Bei der Definition ist die JDA freilich präziser als die IHRA. Und auch bei den Beispielen lassen sich Unterschiede feststellen: Während die IHRA-Arbeitsdefinition nur Beispiele nennt, bei denen ihr zufolge Antisemitismus vorliegt, enthält die JDA auch solche, die nicht per se als antisemitisch gelten können. Sie ermöglicht dadurch den adäquat differenzierten Blick auf das Phänomen Antisemitismus, das sich gerade in seiner Dynamik und Anpassungsfähigkeit einfachen Definitionen entzieht.
Insbesondere die JDA verdient die heftigen Vorwürfe nicht, die gegen sie jetzt wiederholt werden. Wie der israelische Rechtswissenschaftler Itamar Mann jüngst in der FAZ ausführte, ist sie weder antisemitisch noch antizionistisch und hat auch mit Israelhass nichts zu tun; israelbezogenen Antisemitismus verschweigt sie keineswegs. Umstrittener als die IHRA-Arbeitsdefinition ist sie, zumal in Wissenschaftskreisen, keineswegs. Die JDA ist nicht einmal links. Sie wurde 2021 mit Unterstützung von über hundert führenden Antisemitismus- und Holocaustforscher:innen verabschiedet, die auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse der IHRA-Arbeitsdefinition etwas entgegenhalten wollten. Besser als diese trennt sie zwischen Antisemitismus und Kritik an israelischer Politik: Nach ihr ist es etwa per se antisemitisch, Israel als jüdisches Kollektiv zu kritisieren, nicht aber legitime Kritik am Regierungshandeln oder, unter Umständen, sogar Boykotte.
Umgekehrt ist die IHRA-Arbeitsdefinition inhaltlich nicht rechts, auch wenn sie in der Gleichsetzung von Kritik an Israel und Antisemitismus sehr weit geht. Ihr größtes Problem ist ihre Instrumentalisierung. Sie wird, das ist mittlerweile vielfach nachgewiesen, systematisch dazu genutzt, Kritik an israelischer Politik und Regierung zu diskreditieren und gegen Kritiker:innen vorzugehen. Nicht umsonst haben sich autoritäre Führer wie Viktor Orbán, Giorgia Meloni und Donald Trump ihr angeschlossen, die sonst mit Antisemitismusbekämpfung wenig zu tun haben. Und nicht umsonst warnt selbst ihr Hauptautor, Kenneth Stern, vor ihrer Verwendung.
Dass es unterschiedliche Verständnisse von Antisemitismus gibt, entspricht der Natur der Sache. Die Annahme, die IHRA-Arbeitsdefinition müsse allein maßgebend sein und jede engere Definition legitimiere eo ipso Antisemitismus, ist nicht haltbar. Auch die Arbeitsdefinition war immer umstritten. Und die Aussage des Zentralrats der Juden in Deutschland, die IHRA-Arbeitsdefinition sei in der jüdischen Gemeinschaft gleichsam unumstritten und „weltweit anerkannt“, ist empirisch nicht belegt und angesichts der Kritik zahlreicher Jüdinnen:Juden wenig plausibel.
Dass rechte Organisationen die IHRA-Arbeitsdefinition hochhalten wollen, liegt insofern nicht nur am Inhalt, sondern vor allem an ihrer politischen Nutzbarkeit. Genau deretwegen kann aber eine linke Partei gar nicht anders, als die IHRA-Arbeitsdefinition abzulehnen. Denn die Positionen, die mit ihrer Hilfe unterdrückt werden, umfassen linke Positionen wie die oben genannten. Man kann sich wünschen, die Definition ließe sich von ihrer Instrumentalisierung trennen, aber das ist vergebens: Wer die IHRA-Arbeitsdefinition unterstützt, legitimiert auch ihre Nutzung und ihre Nutzer:innen.
Richtig ist, dass Antisemitismus nicht toleriert werden darf. Gerade deshalb sollte es zu denken geben, wie bereitwillig hierzulande gegen linke Jüdinnen:Juden vorgegangen und damit die auch politische Bandbreite/Pluralität jüdischer Positionen ignoriert wird. Israelische NGOs und Menschenrechtsorganisationen, linke Israelis und Jüdinnen:Juden in Deutschland, aber auch palästinensische Opfer von Gewalt und Diskriminierung werden mit Berufung auf die IHRA-Arbeitsdefinition angeprangert und gecancelt. So intervenierte etwa der Zentralrat jüngst gegen Meron Mendel als Preisträger des Buber-Rosenzweig-Preises und die israelische Botschaft gegen Omri Boehm als Redner in Buchenwald.
Sollen uns diese Gruppen wirklich weniger wichtig sein als die Solidarität der Werteinitiative? Soll die Haltung des Zentralrats der Juden in Deutschland es ausschließen, die Positionen auch linker Jüdinnen:Juden, etwa innerhalb einer linken Partei, gelten zu lassen? Und will man in der Bekämpfung von Antisemitismus und Rassismus wirklich auf der Seite von Orbán und Meloni stehen anstatt auf der Seite der – auch jüdisch-israelischen – Menschenrechtskämpfer:innen und NGOs und Akteuren wie der linken israelischen Partei Hashad, die den Parteitagsbeschluss gerade gelobt hat?
Eigentlich ist der Streit um Definitionen eine Ablenkung von den konkreten Policies, die der Beschluss benennt. Es ist dringend geboten, vom Definitionsstreit auf die wesentlichen Fragen zurückzukommen – ein Ende von Massengewalt und -vertreibung in Gaza und dem illegal besetzten palästinensischen Gebiet, die Abwehr autoritärer Tendenzen hierzulande, und die echte Bekämpfung von Antisemitismus und Rassismus. Freilich: Man kann diese Policies kaum durchsetzen ohne Zurückweisung des Werkzeugs, das den Kampf gegen Antisemitismus instrumentalisiert, um genau diese, menschenrechtlich orientierten Policies unmöglich zu machen. Insofern ist die vehemente Kritik an der IHRA-Arbeitsdefinition doch ein nötiger Schritt.
Fixierung auf IHRA-Arbeitsdefinition überwindenMan kann den Kritikern abnehmen, dass sie vom Beschluss der Linken ernsthaft besorgt sind. Der gesellschaftlich-politische Diskurs vermittelt den falschen Eindruck, wer die IHRA-Arbeitsdefinition ablehne, sei automatisch Antisemit:in. Ihr Misstrauen ist daher nachvollziehbar, und eine linke Partei muss Jüdinnen:Juden davon überzeugen, dass ihre Politiken nicht gegen sie gerichtet sind. Die Annahme der JDA sollte das freilich sogar leichter machen: Weil sie besser als die IHRA-Arbeitsdefinition zwischen Antisemitismus und Kritik Israels trennt, macht sie es leichter, Jüdinnen:Juden in Deutschland nicht die Politik der israelischen Regierung zuzurechnen. Sie ermöglicht es zudem, die Vielfalt jüdischer Positionen gelten/sichtbar werden zu lassen.
Der Parteitagsbeschluss macht Hoffnung, dass die einseitige Fixierung auf die IHRA-Arbeitsdefinition überwunden werden kann, ohne dass die berechtigten Sorgen von Jüdinnen:Juden über grassierenden Antisemitismus vernachlässigt werden müssten. Dass er so heftig bekämpft wird, ist ein Zeichen dafür, wie wichtig und überfällig dieser Schritt ist – nicht nur bei der Linken.
Berliner-zeitung