Merz und die bröckelnde Migrationspolitik der Härte: Reicht sein Machtwort nach dem Urteil?

Es klang wie ein Paukenschlag: Friedrich Merz kündigte noch vor seiner Vereidigung als Kanzler an, es werde ein „faktisches Einreiseverbot für Menschen ohne gültige Papiere“ geben, „ab Tag eins“. Als Symbol der neuen Härte ließ Innenminister Alexander Dobrindt an seinem ersten Amtstag verlauten, auch Asylsuchende könnten künftig an der Grenze zurückgewiesen werden. Mit Verweis auf Paragraf 18 des Asylgesetzes, und sogar gegen EU-Verträge wolle man das geltend machen.
Doch nach dem aktuellen Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin, wonach Zurückweisungen an den Grenzen in drei Fällen für rechtswidrig erklärt worden sind, sind die Versprechen zu einem Szenario zwischen juristischer Demontage und politischem Eigensinn geworden und damit zu einem ersten großen Realitätscheck für das migrationspolitische Kernversprechen der neuen Regierung.
Denn was die Regierung als Paradigmenwechsel präsentierte, entpuppte sich binnen weniger Wochen als rechtlich fragwürdig, weswegen es nun von Richtern kassiert wurde. In einem Eilbeschluss, der exemplarisch für viele weitere Fälle stehen dürfte, entschieden die Richter, die Zurückweisung dreier Somalier am Bahnhof Frankfurt (Oder) sei „in der Hauptsache mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit als rechtswidrig“ zu bewerten.
Da half es auch nichts, dass Dobrindt nach dem Urteil am Montagabend darlegte, die Einreisewilligen seien dreimal an der Grenze vorstellig gewesen, hätten erst nach dem dritten Versuch am Bahnhof Frankfurt (Oder) um Asyl gebeten. Dobrindts Linie: Eine Einzelfallentscheidung sei kein Systembruch. Er kündigte sogar ein Hauptsacheverfahren an, um die rechtliche Grundlage seiner Politik endgültig feststellen zu lassen. Der CSU-Politiker spricht außerdem von einer „Einzelfallentscheidung“, will jetzt weitere Details dem Gericht zukommen lassen und die Zurückweisungen besser begründen. Doch, das weiß er auch, genau das kann zu jahrelangen Gerichtsverhandlungen führen.
Grüne, Linke und Flüchtlingsrat: Migrationskurs der Koalition gescheitertDie Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann, die die Migrationswende von Schwarz-Rot prompt als gescheitert erklärte, konterte direkt: „An diesem Urteil gibt es jetzt keine Anfechtbarkeit. Es ist unanfechtbar.“ Dobrindts Versuch, seine Politik juristisch nachträglich zu legitimieren, sei „irritierend“ – und könne die Arbeit der Bundespolizei gefährden.
Doch auch der Kanzler bleibt trotzig, redet derzeit das Urteil klein. Friedrich Merz wiegelte am Dienstag beim Kommunalkongress in Berlin ab: „Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts hat die Spielräume möglicherweise etwas eingeengt. Aber sie sind nach wie vor da.“ Deutschland werde weiter zurückweisen – „im Rahmen des europäischen Rechts“, so der CDU-Politiker.

Doch ob das Machtwort des Kanzlers hilft? Denn die Berliner Richter haben nicht nur die Rückweisung selbst, sondern auch deren rechtliche Grundlage demontiert – inklusive der von Merz ins Spiel gebrachten Ausnahmebestimmung im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), der nur bei „Gefahr für die öffentliche Ordnung“ nationale Abweichungen erlaubt. Eine solche Gefahr, so das Gericht, sei nicht ansatzweise ausreichend dargelegt.
Knackpunkt: Darf sich Deutschland aus EU-Recht ausscheren?Das Urteil des Verwaltungsgerichts sei daher eine schallende Ohrfeige, so Kritiker, die vor allem in den Grünen- und Linke-Reihen zu finden sind. Aber auch der Flüchtlingsrat, etwa in Brandenburg, applaudierte umgehend und sprach von einem „beschämenden Rechtsbruch“. Für die Kritiker machte das Gericht zu Recht deutlich: Das europäische Dublin-Verfahren muss auch bei Asylsuchenden an der Grenze greifen, selbst dann, wenn sie aus einem anderen EU-Staat einreisen. „Die nationale Vorschrift, auf die sich der Bund gestützt habe, kommt aufgrund vorrangigen Unionsrechts nicht in Betracht“, heißt es im Beschluss. Und: „Europäisches Recht lässt sich nicht durch bilaterale Vereinbarungen abbedingen; es steht nicht zur Disposition einzelner Mitgliedstaaten.“
Mit anderen Worten: Deutschland darf sich nicht aus dem EU-Recht heraus definieren – auch nicht, wenn Polen oder Tschechien kooperationsbereit wären. Denn die Dublin-Verordnung regelt, welcher EU-Staat für ein Asylverfahren zuständig ist, und verbietet daher eine sofortige Zurückweisung an der Grenze. Stattdessen müssen die Behörden prüfen, welches Land zuständig ist, und den Asylsuchenden dorthin überstellen, so jüngst der Migrationsrechtler Daniel Thym. Er beschreibt die Konsequenz so: „Wenn Gerichte aus guten Gründen sagen: Das geht alles nicht, verliert die Politik an Handlungsfähigkeit – und die Bürger verlieren den Glauben an den Rechtsstaat.“ Der Ruf nach einer Reform des europäischen Asylsystems sei legitim, so Thym – aber das derzeitige Recht gelte eben.
Polizeigewerkschaft: „Dann werden die Personen eben im Zug kontrolliert“Unterstützung bekommt Dobrindt hingegen aus den Reihen der Bundespolizei. Heiko Teggatz, stellvertretender Bundesvorsitzender der DPolG, kritisierte das Urteil als formalistisch: „Dann werden die Personen eben im Zug kontrolliert, bevor sie aussteigen.“ Man könne die Praxis entsprechend anpassen. Rainer Wendt, DPolG-Bundesvorsitzender, blies ins gleiche Horn: „Deutschland muss darüber entscheiden, wer nach Deutschland einreist. Alles andere ist völlig unakzeptabel.“ Notfalls müsse bei drohender Unwirksamkeit der Zurückweisung sofort Ausreisegewahrsam greifen.
Doch auch das bleibt wohl vorerst Symbolpolitik. Denn sonst drohen neue juristische Niederlagen – mit jeder einzelnen Zurückweisung. Sprich: Ohne europäische Reformen, ohne tragfähige Verfahren und ohne rechtlich belastbare Argumente wird aus dem Projekt „Einreiseverbot“ vor allem ein politisches Lehrstück über die Grenzen nationaler Handlungsfähigkeit im europäischen Rechtsraum.
Berliner-zeitung