Sachsen: Was machen Abgeordnete, wenn sie abgewählt werden?

Dresden/Leipzig. Was folgt auf eine politische Karriere? Da ist so einiges möglich, denkt man etwa an die Grüne Leipziger Bundestagsabgeordnete Monika Lazar, die sich einen Job in einer Bäckerei suchte. Der Chemnitzer SPD-Mann Detlef Müller verkündete, wieder als Lokführer arbeiten zu wollen. Wer den Hausausweis eines Parlaments abgibt – ob gewollt oder abgewählt – hat plötzlich viel Zeit. Hier erzählen neun Abgeordnete aus Sachsen, die kürzlich aus dem Landtag oder dem Bundestag ausschieden, was sie jetzt eigentlich so tun. Befragt wurden sie von den Kolleginnen und Kollegen unserer Partnerredaktionen, der Sächsischen Zeitung und der Leipziger Volkszeitung.

Wann immer es ging, radelte Matthias Rößler die rund 10 Kilometer von seinem Haus in Cossebaude in den Landtag. Anfang des Jahres wurde er 70.
Quelle: kairospress
34 Jahre Politik: „Ein halbes Leben!“, sagt Matthias Rößler und lacht. Sachsens ehemaliger Landtagspräsident ist gerade 70 geworden. Und muss jetzt, im Herbst des Lebens, vieles neu lernen. Zum Beispiel Autofahren. „Wenn Sie ein Leben lang einen Fahrer haben, um auf der Rückbank Dinge zu erledigen, verlernen Sie das“, sagt er. In der Familie Rößler stehe inzwischen fest: Seine Frau sitzt am Lenkrad. Dafür fährt er nun häufiger mit ihr Fahrrad. Auf seinem Diamant, gekauft vor 18 Jahren, gefahren schätzungsweise 30.000 Kilometer. Immer von Cossebaude zum Landtag und zurück. Jetzt denkt er sich andere Ausflugsziele aus, die Elbe entlang.
Aber nicht nur Rößler muss sich umgewöhnen – auch seine Wähler müssen es. Seit der Wiedervereinigung saß Rößler im Landtag, stets wählten ihn die Meißner per Erststimme rein. Und so kommt es, dass ihn auch im Jahr 2025 noch gelegentlich auf der Straße ein Wähler beiseite nimmt, weil er ein Anliegen hat. Und wie reagiert der pensionierte Politiker dann? „Ich höre dann erstmal eine Weile zu“, sagt Rößler. Dann kläre er auf. „Die meisten stört es aber nicht, dass ich niemand mehr bin.“ Und manchmal, sagt Rößler, wenn er kann, dann gibt er noch einen Tipp.

Geert Mackenroth ist weiterhin Sächsischer Ausländerbeauftragter. Seine Partei unterstützte er überraschend via TikTok im Wahlkampf.
Quelle: Ronald Bonss (Archiv)
Als Nachfolger Thomas de Maizières wurde Geert Mackenroth, vorher Richter und Staatsanwalt, 2004 sächsischer Justizminister. 20 Jahre später, noch einfacher Abgeordneter und 74 Jahre alt, kandidierte er nicht erneut. Fiel ihm das Aufhören schwer? „Ich kenne Kollegen, die stark darunter leiden“, sagt er da. „Ich sehe es eher sportlich: Man muss die Saison fair zu Ende spielen.“ Dabei, sagt der CDU-Mann, machten ihm die letzten Jahre am meisten Spaß. „Als Minister funktionieren sie, als Richter schauen Sie, dass sie den Tag rumkriegen“, sagt er. Das Leben als Abgeordneter sei dagegen „aufregend und spannend – da können Sie am meisten bewegen.“
Vor zwei Jahren, als Mackenroth seinen Abschied erklärte, klang er noch anders, beinahe enttäuscht: „Wenn Substanz ersetzt wird durch Floskeln, wenn Bildchen bei Instagram und Facebook mehr zählen als Argumente, dann verspielt Politik zu viel an Glaubwürdigkeit.“ Aber dann tauchte der Kieler plötzlich selbst beim sozialen Netzwerk Tiktok auf, versuchte sich am Ende seiner politischen Karriere als markiger Kommentator politischer Debatten. „Bumm, bumm, bumm, da haben sie wieder einen rausgehauen“, sagte er zum Böllerverbot. Führt er hier nun fort, was er im Plenarsaal nicht mehr los wird? „Nein“ sagt Mackenroth. Die Clips auf Tiktok seien eher ein Experiment im Wahlkampf gewesen. Nichts, was ihn wirklich interessiere.
Dafür wäre sein Terminkalender wohl auch zu voll: Mit seiner Frau will er auf Ostseekreuzfahrt, im März nach Indien, im Winter dann Gran Canaria. „Vielleicht noch Verona oder Sylt“, sagt der pensionierte Staatsdiener. „Je nach dem, wo die Enkel gerade sind.“ Seiner Wahlheimat Sachsen will der Kieler aber treu bleiben. Trotz der schweren Schlacht, die seine Partei hier inzwischen gegen die AfD kämpft. „Wenn es darauf ankommt“, sagt er, „handelt der Sachse verantwortungsvoll.“
Für Politiker, die ihn nun beerben, hat er einen Ratschlag: „Liebe Nachfolger: Macht nicht nur Social Media, ihr müsst auch einfach gut sein, inhaltlich, bürgernah, ernstzunehmend und 60 Stunden in der Woche, mindestens.“
Den Tipp darf er noch einige Wochen selbst auf den Landtagsfluren vergeben: Als Ausländerbeauftragter ist Mackenroth weiterhin bei jeder Plenar- und Fraktionssitzung dabei. Bis ein neuer gewählt wird, geht seine politische Karriere also vorerst weiter. Bis wann? „Ich weiß es gar nicht“, sagt Mackenroth und lacht. Spätestens nach der Sommerpause soll es aber so weit sein.

"Methadon für ehemalige Politiker" nennt Kerstin Köditz' Mann den Livestream aus dem Landtag – den sie manchmal einschaltet.
Quelle: Dietrich Flechtner
„Ja, bitte?“ Im Hintergrund ist Vögelgezwitscher zu hören. „So ist das, wenn man das Fenster aufmacht“, sagt Kerstin Köditz. Die ehemalige Landtagsabgeordnete klang in ihren 23 Jahren Landtag selten so gelassen wie heute. Meist ging es ihr um schwere Themen: Extremismus, Reichsbürger, Neonazis. Nun habe sie eine ganz andere Liste abzuarbeiten, sagt sie: Schwimmen, Minigolf, Französischkurs an der Volkshochschule. Und, ja: Manches sei jetzt anders. „Früher habe ich die Blumen nur gegossen, jetzt mache ich zusätzlich die welken Blätter ab.“
Vermisst sie ihr altes Leben im Parlament? Nur anfangs, sagt Köditz, habe sie sich manchmal vor den Laptop gesetzt und den Livestream der Plenarsitzung eingeschaltet. „Mein Mann nennt das: Methadon für ehemalige Politiker“, sagt sie. Nur als Rentnerin wolle sie sich noch nicht bezeichnen. Obwohl sie es, gewissermaßen, ja ist. Denn Köditz saß vor so langer Zeit im Parlament, dass sie schon jetzt, mit 58 Jahren, ihre Altersentschädigung bekommt. Davon können die Abgeordneten von heute nur träumen.

Marco Böhmes politische Karriere endete vorerst – auch, weil sich ein Verein mit viel Geld in die Wahl einmischte.
Quelle: Christian Modla
Marco Böhme wäre gern weiter im Landtag geblieben. „Ich hatte eine realistische Chance“, sagt der 35-Jährige. Wahrscheinlich hätte er es auch geschafft: Nirgends in Sachsen wählten so viele die Linke wie in seinem Leipziger Wahlkreis. Bei der Erststimme folgten aber noch mehr einer Empfehlung des linken Vereins Campact, der sich mittels Hunderttausender Briefe in den Leipziger Wahlkampf einmischte und die Grünen empfahl. Marco Böhme flog raus. Und schrieb sich wieder an der Uni ein: Stadtplanung im Master. Was er jetzt gar nicht so schlecht findet. „Noch mal fünf Jahre und ich wäre 40 gewesen – da wäre ich wohl kaum noch mal an die Uni.“
Ins Parlament zurück will er nicht mehr. „Jedes Scheitern ist auch eine Erfahrung, die einen stärker macht“, sagt er. „Das Parlament ist auch ein ganz schönes Hamsterrad.“ Ganz loslassen wird er aber nicht. Nächstes Wochenende kandidiert er für den Landesvorsitzenden der Linken, seine Chancen stehen gut. Auch sein Büro in Leipzig-Lindenau hat er behalten – mithilfe von Spenden und dank einer Zuwendung des Vereins Campact. „Eine kleine Wiedergutmachung“, sagt Böhme.

Während der Flüchtlingskrise suchte der Demokratielehrer Frank Richter positiven Streit mit den Sachsen – als Politiker konnte er sich nicht durchsetzen.
Quelle: Claudia Hübschmann
Vielleicht hat Frank Richter in seinen fünf Jahren im Landtag etwas über sich gelernt. Dass er alleine viel bewegen kann. Dass er in Gruppen – in der Politik sagt man auch: in Machtzirkeln – weniger gut funktioniert. „Mir war klar, dass ich kein Parteisoldat bin“, sagt der 65-Jährige rückblickend. „Da habe ich nie dazugehört und bin nicht durchgedrungen.“ Es war ein kleiner Coup, als Martin Dulig den langjährigen CDUler und DDR-Bürgerrechtler Richter überredete, 2019 für die SPD in den Landtag einzuziehen und wenig später auch der Partei beizutreten. Schließlich ist Richter vielen Sachsen ein Begriff, vielleicht auch ein Vorbild: Als Direktor der Landeszentrale für politische Bildung moderierte er noch vor dem Flüchtlingsjahr 2015 zwischen besorgten Bürgern und der Politik, nahm viele Menschen und ihre Meinungen schon früh ernst.

Deutschland ist ein buntes Land. Für diese Rubrik haben wir für Sie bewegende Geschichten aus ganz Deutschland recherchiert. Nicht Ost, nicht West, nicht links, nicht rechts, sondern das echte Leben in seiner ganzen inspirierenden Fülle – Echt Deutschland.
In der Politik selbst blieb der Erfolg aus: Meißner Oberbürgermeister wurde er 2018 ganz knapp nicht. Und die SPD entschied, ihn kein zweites Mal für den Landtag aufzustellen. Er hätte gewollt. „Mir wurde dann zugetragen, dass es nicht weitergeht“, sagt er. „Mein Abschied war melancholisch.“ Richter zog daraufhin aus Sachsen weg, nach Merseburg. Seine Frau arbeitet in Halle. In der Merseburger Stadtkirche gibt er nun regelmäßig Führungen. Und er schrieb ein Buch: „23 Oasen im Osten“, von der Ostsee bis zum Erzgebirge.
In der SPD bleibt er – oder? Richter überlegt. „Die Bauchschmerzen werden größer“, sagt er dann. Er spricht von der aktuellen Asylpolitik, die auch seine Partei mittrage, den ausgesetzten Familiennachzug. „Aber ich bleibe“, sagt Richter. „So schnell mache ich das nicht.“

Mit Nadja Sthamer verliert Leipzig seine einzige SPD-Bundestagsabgeordnete. Wie es für sie weitergeht, lässt sie noch offen.
Quelle: SPD Leipzig
Nadja Sthamer bedauert am meisten, ohne ihr Bundestagsmandat jetzt weniger „wirkmächtig“ zu sein. Das habe schon immer gut geklappt, sagt sie, wenn sie sich als Abgeordnete für Anliegen einsetzte, die Leipzigerinnen und Leipziger ihr ins Bürgerbüro getragen hatten. Aber dann denkt sie auch schnell an Dinge, die sie nicht vermisst. „Sitzungsmarathons bis drei oder vier Uhr in der Nacht“, etwa. Für die zweifache Mutter hieß das immer: gut organisiert zu sein. Für Hobbys, etwa ihre Theatergruppe, blieb keine Zeit.
Von der Politik will die 35-Jährige trotzdem nicht lassen: Sie debattiere und streite einfach zu gern. Im Mai will Sthamer für den Landesvorstand kandidieren und bis dahin ehrenamtlich weitermachen. Wie es beruflich weitergehen soll, ist aber noch nichts entschieden. Vorerst steht eine Auszeit an: Zwei Wochen auf der Seidenstraße in Vorderasien. Zu der ist sie gerade aufgebrochen. Mal ganz allein. Möglicherweise kommt die studierte Politik- und Religionswissenschaftlerin dann auch mit Ideen für ihre eigene Zukunft zurück.

Ivo Teichmann war schon Mitglied von SPD und AfD, jetzt gehört er dem Bündnis Deutschland an. Von der AfD entfremdete er sich.
Quelle: Egbert Kamprath
Als sich Ivo Teichmann von seiner Partei entfremdete, lag er auf der Intensivstation einer Uniklinik. Der AfD-Mann hatte Corona. Und auf Facebook von seiner Erkrankung berichtet. Teichmann leidet seit seiner Kindheit an einer angeborenen Nervenerkrankung, ein schwerer Verlauf war absehbar. Letztlich wurde er sogar künstlich beatmet. Was seine Parteigenossen aber weniger interessierte, wie er erklärt. „Hoffentlich verreckst du“, habe ihm jemand geschrieben, den er aus der Partei gut kannte. „Das ist alles eine Erfindung der Regierung“ ein anderer. „In der Klinik wurde ich sensibler“, sagt Teichmann. 2022 erklärte er seinen Austritt aus der Partei. „Der AfD ist es jedoch nicht gelungen, eine echte Alternative zur Politik der Altparteien im Sinne der notwendigen Kurskorrektur zu werden“, schrieb er damals auch.
Zwei Jahre später trat Teichmann – weniger aussichtsreich – für das „Bündnis Deutschland“ an. Nun arbeitet er wieder für seinen alten Arbeitgeber: das Land Sachsen. Als Diplom-Verwaltungswirt beschäftigt er sich mit Informationssicherheit beim Wirtschaftsministerium. „Es geht zum Beispiel darum, dass alle Daten erhalten bleiben, falls russische Hacker angreifen“, sagt er. Teichmann ist also immer noch mitten in der Politik. Aber er muss sich auch um sich kümmern. Gerade baut er sein Haus um, das barrierefrei werden soll. Falls die Krankheit fortschreitet, sagt der 57-Jährige. Als nächstes sät er Gras auf seinem Grundstück aus. Dann fährt er zur Reha. „Und wenn ich wiederkomme, soll alles schön grün sein.“

Mario Kumpf: Für die AfD holte er ein starkes Ergebnis, trotzdem servierte die Partei den gelernten Koch ab.
Quelle: Rafael Sampedro
Mario Kumpf antwortet schriftlich auf die Frage, wie es nach der Politik mit ihm weitergeht. Vielleicht, weil sein Ausstieg nicht ganz einfach war: Anfang 2024 sägte seine Partei den gelernten Koch, der 2019 das Direktmandat holte, spontan ab und nominierte einen anderen für die Landtagswahl. Kurz darauf entfremdete sich Kumpf von seiner Partei und kandidierte als Bürgermeister seiner Heimatstadt Ebersbach-Neugersdorf – allerdings nicht für die AfD. Und letztlich vergeblich.
Wie erholt man sich von solchen Rückschlägen? Als „Baustelle“ bezeichnet Kumpf das Thema Politik in seinem Leben und schreibt von „negativem Stress, wie man ihn tagtäglich als Abgeordneter und Funktionär einer Partei erlebt“. Kumpf, Jahrgang 1986, bleibt der Kommunalpolitik aber als Stadtrat und Görlitzer Kreisrat erhalten – und das „ohne ideologische Scheuklappen, welche durch einen Fraktionszwang geprägt wären“.

Merle Spellerberg engagierte sich für Abrüstung – nun ist sie erstmal Mutter geworden.
Quelle: STEFAN_KAMINSKI
Für Merle Spellerberg kommt das Ende im Bundestag abrupt. Bis zum letzten Tag vor der Wahl hatte sie Wahlkampf gemacht. 2021 rückte sie mit nur 24 Jahren mit Platz drei der sächsischen Landesliste in den Bundestag reingerutscht. Nun gehört sie zu den 33 Grünen, die das höchste deutsche Haus verlassen müssen. „Ich gehe mit einem lachenden und einem weinenden Auge“, sagt sie. „Das Mandat geht auch mit hohen privaten Kosten einher.“ Dienstreisen, lange Nächte in Berliner Sitzungen, am Wochenende Parteitage und andere Termine.
Und Spellerberg spricht von persönlichen Anfeindungen. Mehrmals stellte sie in den vergangenen vier Jahren Anzeige wegen Beleidigungen auf Social-Media-Plattformen. Jetzt führt sie ihr Studium „Internationale Beziehungen“ an der TU Dresden fort. Vielleicht, glaubt sie, lässt sich das Thema künftig auch mit einer Rückkehr in die Politik verknüpfen. Im Verteidigungsausschuss beschäftigte sie sich mit dem Thema Abrüstung. Jetzt wirkt es, als sei das Thema aus der Zeit gefallen.
Wie jede Abgeordnete erhält Spellerberg jetzt für jedes Jahr im Bundestag jeweils drei Monate Übergangsgeld. Danach will sie noch zwei Monate Elternzeit nehmen: Die Westfälin, die fürs Studium nach Sachsen kam, ist Mutter geworden. Die Zeit mit ihrem Kind helfe ihr auch, vom politischen Alltag Abstand zu bekommen. „Ich höre ohne das Bundestagsmandat aber nicht auf, ein politischer Mensch zu sein“, sagt sie.
rnd