Syrien | Lage in Südsyrien angeblich unter Kontrolle
Nach den tagelangen blutigen Unruhen in Syrien zwischen drusischen Milizen und sunnitisch-muslimischen Beduinenstämmen ist die Lage in der Stadt Suweida Berichten zufolge vorerst unter Kontrolle. Die staatliche syrische Nachrichtenagentur Sana meldete auf Telegram unter Berufung auf das Innenministerium, die Stadt sei von allen Stammeskämpfern geräumt, die Zusammenstöße in den Stadtvierteln seien beendet. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London schrieb auf X von vorsichtiger Ruhe.
Mit der jüngsten Eskalation der Gewalt im südlichen Syrien gibt es auch neue Vorwürfe brutaler Misshandlungen und Tötungen. Im Zuge der Kämpfe über eine Woche seien rund 200 Menschen »auf der Stelle hingerichtet« worden, teilte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit. Aktivisten berichteten, wie Anwohner der Provinz Al-Suweida enthauptet und ihre Häuser in Brand gesetzt worden seien. Fotos und Videos verbrannter und verstümmelter Leichen gehen um, von Demütigungen fürs Publikum, die anschließend wie Trophäen in sozialen Netzwerken geteilt werden.
Nach den tagelangen blutigen Unruhen zwischen drusischen Milizen und sunnitisch-muslimischen Beduinenstämmen war die Lage in der Stadt Al-Suweida am Sonntag vorerst unter Kontrolle. Das syrische Innenministerium teilte mit, der mehrheitlich von Drusen bewohnte Ort sei von Stammeskämpfern geräumt und die Zusammenstöße seien beendet. Der Beobachtungsstelle zufolge kam es in einigen Dörfern aber weiterhin zu Gefechten. Ihr zufolge stieg die Zahl der Todesopfer auf über 1000. Die Drusen sind eine Minderheit, deren Religion aus dem schiitischen Islam entstanden ist.
Syrien war immer wieder Schauplatz von Tötungen und Gewalt in ihren brutalsten Formen: während der jahrzehntelangen Herrschaft der Assad-Familie, die massenhaft töten und foltern ließ, aber auch durch extremistische Gruppen wie die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) oder durch örtliche Milizen. Viele der neuen Vorwürfe richten sich gegen die meist sunnitischen Truppen der neuen Regierung von Präsident Ahmed Al-Scharaa und die mit ihr verbündeten Beduinen. Aber auch gegen die drusische Minderheit, um deren Hochburg Al-Suweida seit Tagen gekämpft wird, gibt es schwere Vorwürfe.
»Diese Gräueltaten unterscheiden sich nicht von denjenigen gegen die Alawiten«, sagte der Leiter der Beobachtungsstelle, Rami Abdul Rahman, der dpa. Er bezog sich dabei auf die Gewalt an der syrischen Küste im März, bei denen vor allem an Alawiten – einer religiösen Minderheit mit Wurzeln im schiitischen Islam – regelrechte Massaker angerichtet worden waren. »Der einzige Unterschied ist, dass die Drusen anders als die Alawiten bewaffnet sind«, sagte Abdul Rahman. Mit seinem Netzwerk aus Informanten in Syrien zählte er an der Küste im März rund 1600 getötete Zivilisten.
»Wie sind wir in solch roher Gewalt und Erniedrigung versunken?«, schreibt der aus Syrien stammende Journalist Maher Akraa, der in der Schweiz lebt und zu Hassreden im Internet forscht. »Warum dieses barbarische Töten, Verstümmeln und Beleidigen unserer Menschlichkeit?« Die Massaker gegen drusische und Beduinen-Familien seien »wahrlich erschreckend«.
Ein angeblich aus Al-Suweida stammendes Video zeigt, wie feiernde Kämpfer ein paar Leichen herumfahren, die sie auf die Motorhauben ihrer Geländewagen platziert haben. In einem weiteren Video werden drei Männer gezwungen, vom Balkon eines Wohnhauses zu springen, und werden dabei erschossen. Unabhängig überprüfen lässt sich die Herkunft der Videos nicht. Syrische Aktivisten für Menschenrechte verbreiten sie aber und erklären, die Videos seien glaubhaft.
Das UN-Menschenrechtsbüro in Genf spricht von glaubhaften Berichten über Menschenrechtsverletzungen. »Dazu gehören Hinrichtungen im Schnellverfahren und willkürliche Tötungen, Entführungen, Zerstörung von Privateigentum und Plünderungen von Häusern« teilte das Büro mit.
Die Regierung Al-Scharaas hatte nach den Massakern an den Alawiten im Frühjahr eine Aufarbeitung versprochen und dafür einen Ausschuss gegründet. Seitdem ist aber wenig passiert. Al-Scharaa hat selbst einen Abschlussbericht dazu erhalten, die Ergebnisse sind bisher aber unter Verschluss. Kritiker werfen seiner Regierung vor, dass Täter straffrei davonkommen würden und die Justiz weitgehend verdeckt arbeite.
Der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, Volker Türk, hat auch für die Gewalt in Al-Suweida »unabhängige, zügige und transparente Ermittlungen zu allen Verstößen« gefordert. Damit müsse auch die Wiederholung solcher Gewalt verhindert werden: »Rache und Vergeltung sind keine Antwort.« dpa/nd
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