Wer sagt es Merz und Spahn?: Das Merkel-Durchwurschtel-Zeitalter ist vorbei!

Dass die Ära Merkel vorbei ist, zeigt sich auch daran, dass sie selbst in Athen ihr Buch vorstellen kann - wo sie während der Eurokrise gefürchtet bis verhasst war.
(Foto: picture alliance/dpa/AP)
In der Koalition knirschen 50 Tage nach Amtsantritt die Balken wegen einer angeblich "ultralinken" Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht, Frauke Brosius-Gersdorf. Es ist eine Katastrophe mit tiefen Wurzeln.
Am ersten Tag Richterin, Fachpublizistin, am zweiten dann Kandidatin für den absoluten Juristensuperjob am Bundesverfassungsgericht - und am dritten dann plagiierende, kinderlose Embryomörderin mit den starren Eisaugen: Die Rede ist von Frauke Brosius-Gersdorf, einer Juristin, die gerade das junge Regierungsbündnis ins Wanken bringt.
Eigentlich sollte sie am Freitag an das Bundesverfassungsgericht gewählt werden, zusammen mit Stimmen der Regierungskoalition, der Grünen und der Linken. Eigentlich ist das ein ruhiger Prozess, bis vor kurzem sogar ein klandestiner. Eigentlich bestimmen demokratische Gepflogenheiten das Verfahren, man gibt, man nimmt, man dealt ein bisschen, aber am Ende steht ein Gericht mit 16 Köpfen, roten Roben und vertrauenswürdigen Urteilen.
Doch die Abstimmung ist vertagt. Es ist eine epochale Schlammschlacht ausgebrochen, weil Brosius-Gersdorf, Kandidatin der SPD, einige ziemlich progressive Randpositionen vertritt. Von einer Amerikanisierung des Karlsruher Gerichts ist deshalb die Rede: Hier solle Politik über die Richterbank gemacht werden, es finde gar ein "institutioneller Umsturz mit System" statt (so die "Welt").
So eine soll nach Karlsruhe?Tatsächlich: Etliche Themen von Brosius-Gersdorf sind politisch aufgeladen. Manche bilden sogar den Nukleus globaler ideologischer Auseinandersetzungen, etwa die Frage zur Strafbarkeit eines Schwangerschaftsabbruchs (Paragraf 218 Strafgesetzbuch). Auf diesem Gebiet hat der amerikanische Supreme Court für Aufsehen gesorgt, hier in Deutschland ist es so heikel, dass die FDP in der Ampel nicht darüber abstimmen wollte.
Bei vielen anderen Reizthemen (nicht aber allen) steht Brosius-Gersdorf ebenfalls links: Kopftücher im Staatsdienst, Ehegattensplitting, Impfpflicht, Grundrechteentzug. Und so eine soll an das Bundesverfassungsgericht, mit Billigung der Merz-Union? Wie konnte das passieren?
Die Geschichtsschreibung für dieses Riesendesaster beginnt gerade erst. Schon jetzt lässt sich diagnostizieren, dass weite Teile der Öffentlichkeit offenbar noch immer nicht den gesellschaftlichen Rechtsruck bemerkt haben - Friedrich Merz eingeschlossen.
Null-Personalie! Rechtsextreme Narrative!So stellen etliche Kommentatoren die Frage in den Raum, inwiefern diese "Null-Personalie" (so ein "Zeit"-Redakteur) überhaupt Relevanz habe. Ganz so, als hätte das Bundesverfassungsgericht nicht wieder und wieder die Bundesrepublik mit Entscheidungen erschüttert, sei es zum Klimaschutz, zu Abtreibungen, Inzest, Kruzifixe oder Haushaltsfragen - Letzteres ließ immerhin die Ampelregierung platzen.
Andere stellen die Kritik an Brosius-Gersdorf dar als Manipulation rechtsextremer Kräfte, weil viele Stimmen sich im Krawallorgan Nius äußern oder auf der Krawall-Plattform X. Diese Versuche, die ganze Brosius-Gersdorf-Diskussion als von Dunkelmännern oder Algorithmen gesteuerte Scheindebatte zu delegitimieren ist vor allem eines: ein Konjunkturprogramm für Nius, AfD & Co.
Als dann zwei bayerische Bischöfe und Kardinal Wölki sich zu Wort melden und Menschen vor dem Bundestag gegen Abtreibungen demonstrierten, verstanden sie vermutlich die Welt nicht mehr.
Kein Gespür für PrioritätenUnd das ist der springende Punkt. Teile der politischen Elite wähnen sich noch in Merkel-Land und wollen trotz aller Indizien nicht wahrhaben, dass die deutsche Öffentlichkeit nach rechts gerückt ist. Sie glauben, man könnte sich irgendwie durchwurschteln wie die Altkanzlerin im Jahr 2015 bei der Migrationspolitik.
Beispiel Stromsteuer-Debakel: Trotz Rekordmilliarden soll angeblich das Geld für die Stromsteuersenkung fehlen - aber für die Mütterrente ist noch etwas übrig? Wer soll das verstehen? Die FAZ-Redakteurin Julia Löhr attestierte deshalb der Politik zutreffend, ihr fehle offensichtlich das Gespür für Prioritäten.
Es ist eine Entfremdung, die sich anhand vieler Themen erzählen lässt, etwa an migrantisch geprägten Sicherheitsproblemen in Schwimmbädern oder den Fairness-Debatten um das Bürgergeld. Der Ernst der Lage und der Wunsch nach einem Politikwechsel tauchen in Reden auf, aber zu selten im Handeln.
Wie hysterische Affen im KäfigDas merkelsche Durchwurschtel-Zeitalter ist aber vorbei. Die Kritik, zumal an den politischen Rändern, kann sich blitzschnell organisieren und das, was ehemals Mitte war, rückt nach rechts. Davor kann man die Augen verschließen - oder alles tun, um die Mitte zusammenzuhalten. Ausgerechnet Merz und Spahn, die Speerspitzen des Politikwechsels, haben die Zeichen der Zeit aber offenbar nicht erkannt, als sie diese Kandidatur mittrugen.
Was bleibt? Ob das Bundesverfassungsgericht Schaden nimmt, wie in seltsamer Einigkeit SPD, Grüne und AfD meinen, zeigt sich erst, wenn die Richterwahl über die Bühne gegangen ist. Vielleicht wurde Karlsruhe auch gerade vor Schaden bewahrt: Mit dieser Personalie wäre das Bundesverfassungsgericht bei jeder harten Entscheidung angreifbar.
In jedem Fall beschädigt ist eine hoch angesehene Juristin: Wie hysterische Affen im Käfig haben Brosius-Gersdorfs Kritiker sie mit allem beworfen, was gerade greifbar war.
Falsch verstandener PlagiatsjägerDazu zählen nicht nur aus dem Zusammenhang gerissene Aufsatzschnipsel oder juristische Auffassungen. Brosius-Gersdorf sei kinderlos, notiert ein besorgter Vater und Chefredakteur sardonisch. Das klingt nach: Sie hasst offensichtlich Kinder, ob geboren oder noch im Embryonalstadium.
Im Netz mokieren sich Tausende über Körperhaltung und Blick der Richterin. Das Finale kommt allerdings erst am Ende: Schließlich weist der "Plagiatsjäger" Stefan Weber vermeintlich den Ausweg, indem er Textauffälligkeiten im wissenschaftlichen Werk Brosius-Gersdorfs herausstellt. Das plustert man in der Union sofort begeistert zu fachlichen Zweifeln auf.
Herrlich: Jetzt können wir sie wegmobben und haben einen belastbaren Grund, mögen sich Spahn und Co. gedacht haben. Doch schon wieder irrten sie, denn Weber gab selbst kurz darauf zu Protokoll, die Union habe ihn missverstanden: Die CDU liege "falsch", wenn sie seine Arbeit als Plagiatsvorwurf hinstelle.
Weder linksextrem noch ultralinksWas die Merz-Regierung hier kurz vor der Sommerpause aufführt, klingt nach Shakespeare. Um eines klarzustellen: Brosius-Gersdorf ist weder linksextrem noch ultralinks. Einsame juristische Auffassungen disqualifizieren sie auch nicht für das Bundesverfassungsgericht - die Richter entscheiden schließlich nicht allein.
Merz' Regierung ist also nicht an juristischen Fragen gescheitert. Sie war schlicht nicht orientiert darüber, wie die heutige Öffentlichkeit funktioniert. Sie hat unterschätzt, wie sehr der Wunsch nach einem Politikwechsel Menschen mobilisieren kann - vom Politinfluencer auf X bis tief in die Fraktion hinein.
Die Maskendeals hat Spahn gut überstanden. Wenn er den Karren jetzt nicht mit Bravour aus dem Dreck zieht, ist er beschädigt.
Quelle: ntv.de
n-tv.de