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Wir haben alle versagt: Was wir nach Corona unbedingt anders machen müssen

Wir haben alle versagt: Was wir nach Corona unbedingt anders machen müssen

Der nächste Ausnahmezustand kommt bestimmt: Journalisten müssen reflektieren, was sie bei Corona falsch gemacht haben. Es geht hier wirklich um die Demokratie.

Zwischen kritischer Nähe und Distanz: die Pressetribüne in der Alten Försterei im Sommer 2020Odd Anderson/AFP

Im Juni 2021 lud die Österreichische Militärische Zeitschrift im Auftrag der Landesverteidigungsakademie Wien gemeinsam mit der European Military Press Association und mit dem Zentrum für menschenorientierte Führung und Wehrpolitik zur „Wiener Strategiekonferenz 2021“. Die Tagung hatte zwei Schwerpunkte: „Demokratie stärken und schützen“ sowie „Demokratie und Strategiefähigkeit“.

Es sollte konkret darüber diskutiert werden, ob „autoritäre Systeme strategiefähiger sein könnten als westlich-pluralistische“ und ob „die westliche Demokratie in ein systemisches Strategiedefizit abgleiten könnte“, wenn es ihr nicht gelingt, „ihre sich rasch verändernde Werteordnung ,neu auszurichten‘“. Hochrangige Militärvertreter aus Polen, Schweden, Deutschland, Israel und Ungarn fragten sich, ob „ein erster dialektischer Lösungsansatz“ in einer „Neuausrichtung“ bestehen könnte, etwa „durch verstärkte humanistische Bildungsanstrengungen“. Die Neuausrichtung sollte „gerade so weit gehen, dass das demokratische Prinzip in seinem Kernbestand überlebt und resilient funktionsfähig bleibt“. Keinesfalls sei „damit ein Abrücken vom demokratischen Prinzip angedacht, das dieser Logik entsprechend zwar zu mehr Strategiefähigkeit führen sollte, aber einen Preis fordern würde, den eine aufgeklärt wertebasierte Gesellschaft keinesfalls zahlen dürfte.“

Die Konferenz fand unter den Vorzeichen der Corona-Pandemie statt. Die Vorgängerkonferenz hatte wegen der vollständigen Lockdowns abgesagt werden müssen. Nun wurde darauf hingewiesen, „dass die 3G-Regelung (genesen, getestet, geimpft) die Voraussetzung zur Teilnahme darstellt“. Die Teilnehmer sollten die exakten Zeiten ihrer Teilnahme übermitteln, „um damit eine bestmögliche Ausnützung der durch die Corona-Regelung vorgegebenen höchstzulässigen Sitzplatzanzahl gewährleisten zu können“.

Unter dem Eindruck des gesellschaftlichen Bruchs durch die Corona-Pandemie suchten die Vortragenden nach Auswegen aus dem Dilemma, einen unsichtbaren Feind bekämpfen zu wollen und die Grundrechte nicht vollends aufgeben zu müssen. Ein Experte sprach zu dem Thema „Demokratisch-partizipatives Krisenmanagement: Sowas funktioniert doch nicht einmal im Kindergarten!“. Ein anderer Vortrag trug den Titel: „Dringlichkeitsvermerk: Demokratie neu konfigurieren“. Ein weiterer Titel lautete: „Die konstruktive Bewältigung von Ungewissheit als Herausforderung für Staat, Gesellschaft und Militär“.

Um herauszufinden, ob das „demokratische Prinzip“ im globalen Kampf der „Systeme“ überlebensfähig sei, analysierten Referenten und Teilnehmer das Verhalten in der Gesellschaft während der Pandemie. Heute ist bekannt, dass für viele Regierungen im Westen das drakonische Vorgehen der chinesischen Regierung das Maß aller Dinge war. Doch die Militärs gingen nicht ideologisch vor. Sie sezierten nüchtern und schonungslos das Verhalten einzelner gesellschaftlicher Player. Mit wissenschaftlicher Kälte stellten die Experten fest, inwieweit einzelne Institutionen sich den ungewohnten politischen Vorgaben unterwarfen. Unter dem Titel „Demokratischer Geist in Krisenzeiten. Die medialen Irrwege falscher Solidarität“ widmete sich der Berliner Soziologe Armin Triebel der Berliner Zeitung und ihrer Berichterstattung über die Corona-Maßnahmen. Triebel untersuchte 330 Artikel, die zwischen Ende April und Ende Dezember 2020 in der Werktagsausgabe erschienen waren.

Der Autor beschreibt in seiner Studie, wie sich die Spaltung in der Gesellschaft durch die Berichterstattung in allen Medien zugespitzt hat: „Mit der Einführung der Maskenpflicht setzte im April 2020 der erste Diskursstrang ein: der ,vernünftige‘ Bürger hier, ihm gegenüber der Einfaltspinsel. Der zweite Diskursstrang ordnete den Gegensatz politisch ein und sortierte die Bevölkerung in Vernunftbürger und Verschwörungstheoretiker auseinander. Der dritte Diskursstrang im Herbst 2020 stellte eine suggestive Verbindung zum Antisemitismus-Diskurs her: Der Kritiker von Regierungsmaßnahmen rückte in die Nähe der Antisemiten.“

Dieser allgemeine Sog hatte auch seine Auswirkungen auf die Berichterstattung der Berliner Zeitung. Triebel schreibt: „Die Kodierung und Auszählung der verhaltensbezogenen Artikel in der Berliner Zeitung zeigt, dass sich die Zeitung im Jahr 2020 stark an diesem Spaltungswerk beteiligt hat. Nur drei Prozent der Artikel waren irgendwie kritisch der Regierungspolitik gegenüber eingestellt. Ein gutes Viertel der Artikel konstatierte die Zweiteilung der Gesellschaft als offenbar gegeben. Sechs Prozent der Artikel heizten sie selber, teils wortgewaltig an, indem sie abweichende Meinungen zuerst veralberten und dann zunächst ins moralische und später ins politische Abseits beförderten.“ Im Herbst 2020 beobachtete Triebel schließlich einen „gewissen Kurswechsel“ „hin zu einer distanzierteren Berichterstattung“. Triebels Analyse kann im Sammelband „Internationale Perspektiven im 21. Jahrhundert“ beim Jan Sramek Verlag nachgelesen werden.

Die Bereitschaft der Medien, sich in einen engen Informationskorridor drängen zu lassen, entspricht nicht dem Selbstverständnis einer freien Presse in einer offenen, demokratischen Gesellschaft. Ihre oft nicht notwendige Willfährigkeit war überdies kontraproduktiv, so Armin Triebel: „Entgegen den Planungen hat die Corona-Pandemie nicht zu mehr gesellschaftlicher Solidarität geführt und die befürchtete Erosion des gesellschaftlichen Gemeinsinns nicht aufgehalten. Der Versuch, die Bevölkerung durch drastisches Ausmalen von Gefahr und durch einen moralisierenden Solidaritätsbegriff auf einen einheitlichen Willen einzunorden, hat vielmehr zur Aktivierung von Feindbildern und zur Ausprägung feindlich sich gegenüber stehender Wir-Gruppen geführt. Durch die Herstellung von Angst wurde die Moral mit Zwangsgewalt ausgestattet.“

In der wechselvollen Geschichte der Berliner Zeitung waren die Corona-Jahre eine besondere Zeit – wie für alle Medien: Obwohl formal zu hundert Prozent frei, fühlte sich die Arbeit plötzlich bleiern an. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte proklamiert, die Welt befinde sich im Krieg mit dem Virus. Fast erleichtert fügten sich die meisten Medien in einen entlastenden Rahmen: Regierungsverlautbarungen zu hinterfragen, war plötzlich nicht mehr so wichtig – immerhin ging es um Leben und Tod. Der Feind war unsichtbar, konnte also überall ausgemacht werden. Die Krise traf viele Medien in einer Phase der seit Jahren anhaltenden redaktionellen Ausdünnung: Kenntnisreiche Wissenschaftsredakteure waren längst die Ausnahme, ebenso wie Chefredakteure mit Allgemeinbildung. Die Brandmauern zwischen Redaktion und Verlag sind in vielen Häusern sehr durchlässig geworden. Während der Corona-Zeit wurden viele Medien mit staatlichen Werbeanzeigen über Wasser gehalten – wer wollte da schon widersprechen? Der Druck auf ihre Unabhängigkeit bewahrende Verleger war enorm: Nicht viele hatten das Rückgrat, dagegenzuhalten.

Für die Berliner Zeitung kann gesagt werden: Holger Friedrich stand wie ein Fels in der Brandung. Er sicherte die Vielfalt und ermöglichte der Redaktion eine differenzierende Berichterstattung. Mit der Rubrik Open Source öffnete er die Zeitung für abweichende Perspektiven. Außerdem haben uns mutige Gesprächspartner geholfen, die sich früh mit fundierten Beiträgen aus der Deckung gewagt haben. Die Schriftstellerin Daniela Dahn mit einem klugen Essay über Empathie, der Journalist Heribert Prantl mit leidenschaftlichen Aufrufen zur Wachsamkeit, die Internistin Stefanie Holm mit Aufklärung zum Thema Angst, die junge Anwältin Jessica Hamed mit klarsichtigen Plädoyers für die Grundrechte, der Philosoph Michael Andrick als unermüdlicher Mahner und Warner vor Fehlentwicklungen.

Ein Problem beschäftigt die Zeitungen schon länger: Kaum eine Redaktion ist noch so ausgestattet, dass sie sich mit komplexen Materien, mit unbekannten Viren oder neuartigen Impfungen kompetent auseinandersetzen könnte. Zugleich unterwerfen sich die Medien heute einem absurden, künstlichen Zeitdruck. Damit sind sie den gewaltigen PR-Maschinen von Politik, Lobbyisten und Unternehmen hilflos ausgeliefert. Sie werden überschwemmt von einem Narrativ-Tsunami, dem zu widerstehen kaum möglich erscheint. Am Ende schreiben viele jenes, von dem andere wollen, dass es gedruckt oder online gestellt wird. Autoritäre Instanzen wie Faktenchecker, Denunzianten oder auf Wohlverhalten trimmende Algorithmen unterlaufen das Fundament der freien Presse und zerstören diese unmerklich.Es ging den meisten Redaktionen wie dem Paul-Ehrlich-Institut: Es ließ sich mangels eigener Ressourcen die zu kontrollierenden Arzneimittel von den Herstellern zuschicken. Unangemeldet vor Ort kontrollieren? Fehlanzeige. Auch die Medienarbeit besorgten vor allem die Pharmakonzerne. Sie finanzierten Wissenschaftler, mitunter auf Umwegen. Diese Wissenschaftler boten sich den oft überforderten Redakteuren als „Experten“ an und griffen mitunter zur aktiven Intervention: Es gab E-Mails, in denen unverhohlen Drohungen ausgestoßen wurden, wenn bestimmte Artikel nicht unverzüglich gelöscht würden. Aus Ehrfurcht vor den Experten stellten viele Journalisten nur „unverdächtige“, also affirmative Fragen. Dabei waren diese Experten, einmal selbstbewusst angefasst, in der Regel durchaus in der Lage, auch kritische Fragen ehrlich zu beantworten.Die größte Herausforderung für den Journalismus – und da hat sich in 80 Jahren offenbar nicht viel verändert – ist und bleibt bei allen Krisen jedoch der einzelne Journalist, die einzelne Journalistin: Sie müssen ihre Ängste überwinden, dürfen sich nicht vor der gesellschaftlichen Isolation fürchten, sollten den internen Widerspruch nicht scheuen. Sie müssen zugleich sich und andere beständig infrage stellen. In der „Neuausrichtung“ der westlichen Gesellschaften im Zuge eines globalen Trends hin zum Autoritären müssen sie flexibel sein, wenn es um neue Technologien geht; und stur wie die Böcke, wenn die Freiheit der Presse angegriffen wird.

Dr. Michael Maier ist Herausgeber der Berliner Zeitung.

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