Ein Rennen wie ein Thriller: Dank Kévin Vauquelin wird die Tour de Suisse zum Spektakel – ihm gehört trotz Niederlage die Zukunft


Viele Spitzensportler verlieren sich in ihrer Freizeit auf Tiktok oder beim Zocken am Computer. Kévin Vauquelin dagegen liest Bücher, wenn er das Velo zur Seite stellt, sein Lieblingsautor heisst Franck Thilliez. Der schreibt, inspiriert von Stephen King, düstere Thriller: Werke, in denen die Protagonisten in ausweglos wirkende Situationen geraten und schwere Zeiten durchmachen.
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In den letzten Tagen wirkte Vauquelin selbst wie eine Figur in einem Thilliez-Roman: Heroisch kämpfend, stemmte sich der französische Radprofi gegen das drohende Schicksal, die Tour de Suisse in letzter Minute zu verlieren. Trotz aller Mühen wurde die Niederlage mit jeder Etappe wahrscheinlicher, und am Ende schlug das Schicksal in der erwarteten Unerbittlichkeit zu: Der Favorit João Almeida entriss dem Aussenseiter Vauquelin das gelbe Trikot im Bergzeitfahren von Beckenried zur Stockhütte.
«Man erlebt mehr Hochs als Tiefs»Auf dem ersten Teilstück am vergangenen Sonntag hatte Vauquelin in einer Fluchtgruppe überraschend fast drei Minuten Vorsprung auf Almeida herausgefahren. Doch wenn es steil wird, ist dem Portugiesen kaum beizukommen: Er gewann 2025 bereits die Baskenland-Rundfahrt und die Tour de Romandie. 2024 wurde Almeida an der Tour de France Vierter, obwohl er unterwegs den Gesamtsieger Tadej Pogacar protegierte.
Der Portugiese machte sich humorlos auf die Jagd nach der verlorenen Zeit. Am Mittwoch stürmte er schneller als alle anderen über den Splügenpass, während sich Vauquelin weit hinter ihm Wortgefechte mit seinem Landsmann Romain Grégoire lieferte, der sich seiner Meinung nach zu wenig an der Verfolgung beteiligte. Am Donnerstag war Almeida erneut weit voraus, und Vauquelin fasste den zähen Kampf um Schadensbegrenzung im Ziel so zusammen: «Ich war tot.» Er sagte auch: «Man erlebt in seiner Karriere mehr Tiefs als Hochs.»
Am Samstag setzte es eine weitere Niederlage, Vauquelin wurde von Almeida überspurtet. Und doch rettete er 33 Sekunden ins abschliessende Zeitfahren, bei dem auf einer Länge von nur 10 Kilometern 800 Höhenmeter zu bewältigen waren. Der Franzose kündigte an, so schnell zu fahren, dass es ihm im Ziel schlecht ergehen werde - und er hielt sein Versprechen. Als zähle jedes Gramm, warf er unterwegs seine Sonnenbrille davon. Aber Almeida legte noch schneller los, und er hatte symbolträchtig seine Brille gar nicht erst angezogen.
Bis zur ersten Zwischenzeit war Vauquelins Vorsprung auf 11 Sekunden geschmolzen, kurz darauf war der letzte Funken Hoffnung dahin. Doch der Franzose ärgerte sich nicht, das Rennen verloren zu haben. Vielmehr machte er abends im Gespräch mit der NZZ deutlich, wie sehr er sich über den Verlauf der Woche in der Schweiz freue: «Das ist ein grosser Schritt in meiner Karriere. Ich profitiere sehr von dieser Tour de Suisse.»
Der 24-Jährige gehört einer neuen Generation französischer Radfahrer an, die sich fundamental von ihren Vorgängern unterscheidet. Letztere träumten gross, um fast immer ebenso gross zu scheitern. Thibaut Pinot beispielsweise wollte den Gesamtsieg an der Tour de France erzwingen, auf den die Grande Nation bereits seit 1985 wartet, als letztmals Bernard Hinault triumphierte. Pinot scheiterte stets in dramatischer Facon an einer Mischung von Pech, Unvermögen und professioneller Gegnerschaft.
Vauquelin, seine etwas jüngeren Landsleute Grégoire und Lenny Martinez sowie der erst 18-jährige Paul Seixas agieren nüchterner. Sie reden wenig, arbeiten hart, peilen realistische Ziele an - und schlagen instinktsicher zu, wenn sich Chancen bieten. Wie an der ersten Etappe der Schweizer Landesrundfahrt, als sich Almeidas Team UAE einen Aussetzer leistete und die Fluchtgruppe davonziehen liess. Grégoire gewann das Teilstück, Vauquelin bescherte der Tour de Suisse eines der spannendsten Duelle ums gelbe Trikot in den letzten Jahren.
Neue Partnerschaften im SponsoringDass die Dramaturgie literarische Qualitäten annahm, freute naturgemäss auch die Veranstalter. «Wir schweben auf einer rosa Wolke», sagte der Event-Direktor Olivier Senn am Sonntag. Bereits beim Frauenrennen mit der Schweizer Gesamtsiegerin Marlen Reusser sei die Stimmung grossartig gewesen, «und bei den Männern wurde es von Tag zu Tag noch besser». Sein Kalkül, eine Strecke zu kreieren, die bis zum Schluss Spannung bietet, ging für einmal voll auf.
Die Bewertung der finanziellen Situation fällt so optimistisch aus wie lange nicht. Es ist gemäss den Organisatoren realistisch geworden, die chronisch defizitäre Veranstaltung inklusive Frauenrennen in die Gewinnzone zu führen. «Darum haben sie mich geholt», sagte Gabriela Buchs, die neue Chefin der Firma Cycling Unlimited. Sie ist seit ihrem Amtsantritt im November 2024 für die Sponsorensuche verantwortlich. Buchs berichtete von neuen Partnerschaften mit Firmen im In- und Ausland und positiven Rückmeldungen weiterer potenzieller Sponsoren.
Almeida nahm den Gesamtsieg in routinierter Gelassenheit zur Kenntnis. Auch portugiesische Fans, die ihn in Emmetten mit Landesflaggen bejubelten, lockten ihn nicht aus der Reserve. Demnächst wird er an der Tour de France erneut Pogacar helfen. Auf die Frage, ob er am weltgrössten Rennen auch einmal auf eigene Rechnung fahren wolle, antwortete er fast phlegmatisch: «Es kommt nicht darauf an.»
Vauquelin freute sich erkennbarer über den zweiten Platz: Er weiss, dass ihm die Zukunft gehören könnte. Noch steht er bei Arkea unter Vertrag, einer französischen Aussenseiter-Equipe. Er könnte jedoch zum besser dotierten britischen Team Ineos wechseln. Der Transfer wäre so unromantisch, aber gleichzeitig rational, dass er perfekt zum Vertreter der neuen französischen Generation passen würde.
Bei Ineos würde Vauquelin wohl unter anderem mit Sir David Brailsford zusammenarbeiten, der die Vorgänger-Mannschaft Sky zu mehreren Tour-de-France-Siegen führte, bevor sich sein Fokus zu den Fussballern von Manchester United verschob. Brailsford soll künftig wieder ein stärkeres Engagement im Radsport planen. Falls Vauquelin demnächst noch grösser auftrumpft als an der Tour de Suisse 2025, sollte das niemanden überraschen.
nzz.ch