Frauen-EM: Wales-Torhüterin über ihr Leben mit Autismus – Nicht euer Sheldon


„Bazinga!“, „Sheldon und sein Hirn, ja! Scheldon und sein Hirn, ja“. In der Serie The Big Bang Theory fällt Sheldon Cooper durch seine pedantischen Zwänge, Defizite im sozialen Verhalten und Besserwissertum auf. Viele verbinden dieses Auftreten mit Autismus – allerdings wurde seitens der Drehbuchautoren nie offiziell bestätigt, dass es sich tatsächlich um einen autistischen Charakter handle. Obwohl die klischeehafte Darstellung des (un-)verkappten (und in der Regel männlichen) Weirdos ohnehin überholt ist, beziehen viele Zuschauer ihr Wissen über autistische Personen fast ausschließlich aus der Popkultur. Dabei vermischen sich oft Aufklärungsversuche mit Klischees. Die vereinfachte Darstellung verfestigt besonders in Zeiten von Tik-Tokschen Selbstdiagnosen ein unvollständiges Verständnis von Autismus. Damit räumen jetzt zwei Profi-Fußballerinnen auf.
„Fußball ist mein Hyperfokus. Ich bin wie besessen. Das ist mein Autismus, meine Superkraft“, sagte Lucy Bronze im März BBC Sport in einem Video-Interview anlässlich der Neurodiversity Celebration Week. Unter dem Begriff Neurodiversität versammeln sich unterschiedliche neuronale Krankheitsbilder wie etwa Autismus, ADHS oder Legasthenie. „Neurodiversität“ soll die Vielfalt der menschlichen Gehirnentwicklung und Funktionsweisen abbilden. Chelseas Außenverteidigerin Lucy Bronze, die mit England bei der EM in der Schweiz auf die Titelverteidigung hofft, betont in der Öffentlichkeit ihre neurodiversen Eigenschaften eher als Stärke. Ein Trend, der in den sozialen Medien längst eine breite Öffentlichkeit genießt. Ihr BBC-Interview ging viral.
Die walisische Nationaltorhüterin Safia Middleton-Patel ist ihrem Beispiel jetzt im Vorfeld der Europameisterschaft gefolgt und sprach ebenfalls mit BBC über ihr Leben als Profi-Fußballerin mit diagnostiziertem Autismus. Das öffentliche Bekenntnis Bronzes hatte offenbar Signalwirkung. So sagt Middleton-Patel, die im Liga-Alltag das Tor von Manchester United hütet, selbst: „Seit ich in der Liverpool Academy war, habe ich immer zu ihr aufgeschaut. Als sie ihre Diagnose öffentlich machte, hat es mir die Augen geöffnet. Wir sind nicht dieselbe Person, unsere Diagnose ist nicht identisch, aber wir sind beide Profi-Sportlerinnen. Jetzt will ich ein Vorbild für andere sein, so wie sie es für mich war. Mir hat es mehr Selbstbewusstsein gegeben.“
Dennoch: Bislang ist das öffentliche Bekenntnis im Profi-Fußball zur Autismus- oder ADHS-Diagnose eine Ausnahmeerscheinung. Bronze und Middleton-Patel sind die ersten Profi-Fußballerinnen überhaupt, die diesen Schritt gewagt haben. Für die 20-jährige Middleton-Patel, die ihre Diagnose bereits zwei Jahre zuvor im Alter von 18 Jahren erhielt, soll dies ein Wendepunkt gewesen sein. Nicht nur für sie persönlich, sondern auch für ihren Umgang mit den Eigenarten, die sie schon ihr ganzes Leben lang begleiten. „Ich habe mich immer anders gefühlt“, erzählt sie im BBC-Interview. „Manchmal verarbeite ich Informationen einfach anders. Wenn mir jemand etwas sagt, frage ich nach, bis ich es wirklich verstehe. Früher galt ich deshalb oft als streitlustig oder schwierig.“ Ein Missverständnis, das viele autistische Menschen kennen: Was als Nachbohren oder Pedanterie wahrgenommen wird, ist oft nur der Versuch, Klarheit zu schaffen.
Die Herausforderungen, die Middleton-Patel beschreibt, zeigen die Bandbreite autistischer Erfahrungen: Überstimulation – zum Beispiel nach Pressekonferenzen oder Medienrunden – würde sie nach eigener Aussage derart belasten, dass sie sich tagelang zurückziehen müsse. Sie kenne das Gefühl, eine Woche lang wie an ihr eigenes Bett gefesselt zu sein. Selbst alltägliche Situationen wie das Tanken können dabei schnell zur Überforderung werden. Manchmal suche sie gezielt Selbstbedienungstankstellen auf, um sozialen Kontakt zu vermeiden. Doch wie so oft bei Autismus gibt es auch die andere Seite: etwa die Fähigkeit zur Hyperfokussierung, die im Torhüterspiel durchaus von Vorteil sein kann.
Im Interview mit BBC verrät die Keeperin, dass Lego neben dem Fußballspielen nicht nur ihre größte Leidenschaft, sondern auch ihr Spezialinteresse ist. Lego würde ihr helfen, Spielsituationen zu erahnen und aufmerksam zu bleiben: "Ich stelle mir den nächsten Pass wie einen fehlenden Lego-Stein vor, den ich suche." Spezialinteressen sind ein elementarer Bestandteil der Autismus-Diagnostik. Das sollte Fußballfans bekannt vorkommen, schließlich sind sie es, die sich all das verfügbare Wissen aus der Vereinshistorie ihres Clubs aneignen und mit Nerdtum prahlen. „Lego ist der einzige Laden, in den ich gehen kann, weil ich weiß, was ich dort will. Ich kann tatsächlich ein Gespräch anfangen, weil sie Lego genauso lieben wie ich.“ Fachsimpeln geht offenbar nicht nur in der örtlichen Fankneipe, sondern auch im Lego-Store.
Für Middleton-Patel bedeuten Legoteile aber weit mehr als das – sie verkörpern ihre Weltanschauung. Was die Keeperin besonders betont: Sie sieht sich selbst nicht als defizitär. „Ich bin nicht schwierig, ich denke einfach anders“, sagt sie. Bei Manchester United hat sie nach eigener Aussage das perfekte Umfeld dafür gefunden: Der Verein gehe offen auf sie zu, frage nach, wenn Unsicherheiten bestünden, statt sie direkt zu kritisieren. Auch ihre Teamkolleginnen informieren sich über Autismus, um sie besser zu verstehen. Ein Beispiel dafür, wie Inklusion im Profisport funktionieren kann.
Befreit von der MaskeFür Middleton-Patel war die Diagnose eine große Erleichterung. Sie fühlte sich „befreit von der Maske“, die sie lange getragen hatte, um sich an die gesellschaftliche Norm anzupassen. Masking, ergo das Verstecken autistischer Eigenschaften, ist eine häufige Strategie autistischer Menschen. Besonders von Frauen. Es ist aber eben auch psychisch extrem belastend.
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